Die Liebe ist eine Insel
begegnen.
Kein Blick, nichts Lebendiges.
Als sie auf der Straße ist, läuft sie los.
Sie hat die Personen nicht wiedererkannt. Es ist nicht Enttäuschung, es ist etwas anderes. Ein Gefühl tiefer Einsamkeit.
Sie ist gekommen, aber ihr Bruder war nicht da.
D ie Jungs verabschieden sich, verschwinden unter die Dusche. Der Ton vermischt sich mit dem Wasser und fließt grün zwischen ihren Füßen davon.
Sie sind glücklich, es ist nicht schlecht gelaufen.
Eine Journalistin wartet in der Garderobe auf Odon. Auch er ist erleichtert. Das Lampenfieber war ein bisschen störend, doch alles in allem ist es gut gegangen.
»Sie wirken erschöpft«, sagt die Journalistin, »man könnte meinen, Sie hätten selbst gespielt.«
Er antwortet nicht. Sucht eine Flasche Wasser.
Sie fragt ihn nach den Gründen für diese eher düstere Aufführung. Er wird sofort wütend, als sei das Theater dazu da zu beschönigen.
»Das Leben eines Menschen lässt sich in vier kleinen Dingen zusammenfassen, Liebe, Verrat, Verlangen und Tod. Nuit rouge thematisiert genau das.«
Er findet eine Flasche, setzt sich, trinkt ein volles Glas, stellt das Glas auf den Tisch zurück und füllt es erneut.
Das Wasser beruhigt ihn.
»Es gibt nur das, Leben, Tod, das Unvermeidliche! Und die Utopie, also das, was man erfinden muss, wenn man versuchen will, da herauszukommen. Deswegen stirbt Julies Figur ja, sie ist unfähig, andere Türen aufzustoßen.«
Die Journalistin findet die Wahl eines unbekannten Autors dennoch überraschend.
»Ist das nicht riskant?«
Er beugt sich vor, die Ellbogen auf seine Schenkel gestützt, die Hände zusammengelegt.
Ruhig erklärt er, dass Selliès mit fünfundzwanzig gestorben ist, nur wenige Wochen, nachdem er den Text geschrieben hatte, und ohne noch erfahren zu haben, ob er gelesen worden war.
»Ich bin ihm nie begegnet. Sein Manuskript wurde mir zugeschickt.«
Er sagt, dass es nicht reiche zu schreiben. Er spricht von der Schwierigkeit, den Atem eines Textes zu finden, diese Grundvoraussetzung dafür, dass er nicht nur gespielt, sondern getragen, transzendiert werde. Literatur sei nicht nur eine Abfolge von Worten.
Die Journalistin kommt auf Selliès zurück. Sie sagt, es sei fast tabu, einen toten Autor zu veröffentlichen. Nur wenige Regisseure würden ein solches Risiko eingehen.
Odon lacht höhnisch.
»Verbote sind dazu da, missachtet zu werden.«
»Hat er noch mehr geschrieben?«
»Nein, nichts.«
Zum Schluss stellt sie ihm Fragen zum Streik, zu den Off-Theatergruppen, die sich weigern zu spielen, sie will seine Haltung dazu erfahren. Er antwortet knapp.
Sie schreibt auf, was er sagt. Sie dankt ihm mit einem Lächeln.
Sie sagt, ihr Artikel erscheine am nächsten Morgen.
J ulie und die Jungs haben einen Tisch unter den Platanen an der kleinen Sorgue reserviert. Es ist ein enges gepflastertes Gässchen, eines der ältesten der Stadt, im ehemaligen Färberviertel. Sie trinken Punsch von den Antillen, der nach Guave und Kokosmilch schmeckt, mit Ananasstücken und einem Papiersonnenschirmchen als Dekoration.
Sie stoßen auf die Zukunft an.
Die Tische um sie herum sind alle besetzt.
Es ist zu heiß, das Wasser der Sorgue ist modrig.
Vielfarbige Girlanden leuchten in den Bäumen. Eine bunte Menschenmenge strömt dicht gedrängt durch die Straßen. Gruppen junger Mädchen, Frauen in farbenfrohen Stoffen. Sie essen Eis, entscheiden sich für eine Crêpe, essen im Gehen, beobachten die anderen.
»Für eine Premiere war es gar nicht so schlecht«, sagt Yann.
»Odon sagt, wir hätten unseren Personen zu sehr die Zügel schießen lassen.«
»Odon nervt.«
»Sprich nicht so von meinem Vater.«
Damien entschuldigt sich. Er dreht den Papiersonnenschirm in seinen Fingern.
»Mit diesem Stück kannst du nicht gerade glänzen …«
»Ich will gar nicht glänzen.«
»Ich habe mehr Ego«, sagt Chatt’. Niemand weiß so recht, warum er das sagt.
Julie entgegnet nichts mehr.
Nuit rouge ist ein zu komplexes Stück. Um damit richtig Kasse zu machen, bräuchte es schon ein Wunder. Als Odon ihnen den Text im letzten Jahr präsentierte, wollte er nicht weiter darüber diskutieren. Wir machen das für das Festival, hat er nur gesagt. Ein düsteres, tragisches Thema, das scheinbar leicht daherkommt.
Flamencoklänge brechen hinter einer schwarzen Tür hervor. Ein Mann in einem karierten Anzug geht vorbei, er singt a cappella.
Man serviert ihnen riesige Entrecôtes, Pommes frites und Brot in einem Korb. Sie
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