Die Liebe ist eine Insel
Augenblick. Er klappt die Zeitung zu, die Seiten rascheln. Endlich, wenn auch zu spät, wird Selliès anerkannt werden.
Er muss Marie den Artikel zeigen.
Jeff sitzt mit dem Rücken zur Wand und klebt Stücke von Aluminiumfolie auf seine Stiefel. Zwei große, mit Baumwolle überzogene Engelsflügel liegen auf dem Fußboden.
»Was ist das für ein Durcheinander?«, fragt Odon.
»Mein Kostüm.«
»Willst du damit auf dem Platz spielen?«
Jeff nickt.
In früheren Sommern hat er ein Pierrotkostüm und eine weiße Maske getragen. Er konnte einfach nicht untätig bleiben.
»Du lässt nichts von diesem ganzen Kram hier, okay?«
Er nickt.
Marie kommt lautlos dazu. Sie bleibt in der Tür stehen.
»Sie sind schön, Ihre Flügel …«
Jeff lächelt.
Sie kommt herein.
»Es wird Ihnen ganz schön heiß werden da drin.«
»Ich habe Löcher hineingemacht, zur Belüftung.«
Er zeigt es ihr, an den Seiten. Er zeigt ihr auch, wie er die glänzenden Papierstücke auf seine Stiefel klebt.
Sie geht zu Odon ins Büro.
»Ich habe das Stück gestern gesehen … Es war nicht schlecht.«
Odon nickt. Er reicht ihr den Artikel.
Sie liest den gedruckten Namen ihres Bruders. Ein verfemter Dichter … Verfemt, ist das so ähnlich wie bestraft? Sie weiß es nicht.
»Kann ich ihn behalten?«
Sie steckt die Zeitung in ihren Rucksack.
»Könnte ich auch Freikarten haben?«
Er geht um den Schreibtisch herum, setzt eine Brille mit kleinen runden Gläsern auf und öffnet eine Schublade.
»Wie viele willst du?«
»Eine Art Dauerkarte wäre nicht schlecht.«
Er blickt sie über seine Brillengläser hinweg an. Dann öffnet er eine andere Schublade, nimmt ein Stück Karton heraus, schreibt ein paar Worte darauf und drückt einen Stempel daneben.
Er reicht ihr den Karton.
»Es gibt aber auch andere Aufführungen in der Stadt zu sehen.«
»Die anderen Aufführungen interessieren mich nicht.«
Sie faltet die Dauerkarte einmal.
Sie streicht mit den Fingerspitzen über die Schreibtischplatte. Ihre Nägel sind kurz, abgekaut. Eine Fliege summt, schlägt immer wieder heftig gegen die Fensterscheibe.
Marie geht zum Fenster und blickt hinaus auf den Platz.
Ihr Gesicht leuchtet im Licht.
»Und wie kommst du mit Isabelle aus?«, fragt er.
»Gut …«
Er steht auf.
Er mustert ihr Gesicht, die sanfte Linie der Lider und die vom Ring vergewaltigte Lippe.
»Sonst noch was?«
Die Fliege schlägt immer noch gegen die Fensterscheibe.
»Ich bin nur so vorbeigekommen«, sagt sie.
Sie blickt sich um, die Unordnung, die Kartons, die Papiere. Bücherstapel, die einzustürzen drohen. Ein Stück Linoleum ist unter die Regale gerutscht. An der Wand das Foto einer rotbraunen Katze. Auf einem alten Stuhl ein schwarzer Schal. Eine Spinne hat ihr Netz zwischen Schal und Wand gesponnen.
»Schlimmer als bei mir«, sagt sie.
Sie seufzt und schließt das Fenster.
»Normalerweise habe ich seine Texte getippt.«
Sie hat es mit müder Stimme gesagt. Die Finger ihrer Hände krümmen sich in ihren Handflächen.
» Nuit rouge muss er selbst getippt haben. Oder er hat es von seiner Hure tippen lassen …«
Sie lacht leise.
»Meine Mutter behauptete das, dass er eine Hure in der Stadt hätte … Aber vielleicht hat er Ihnen den Text ja handgeschrieben geschickt?«
Sie sieht Odon an.
»Erinnern Sie sich nicht?«
Odon breitet die Hände aus.
Er schüttelt den Kopf.
Marie dreht sich um.
Schwere Umschläge liegen auf den Stufen einer Treppe, die nach oben führt. An ihrem Ende ein Raum ohne Tür.
»Die Schrift meines Bruders war das reinste Gekritzel, völlig unleserlich … Wenn er mit der Hand geschrieben hätte, würden Sie sich erinnern.«
Sie gleitet mit den Fingern über die Bücher, die Theaterstücke, ein paar Gedichtbände auf Velinpapier. Eine Biographie von Samuel Beckett.
Daneben kleine weiße Bücher, Éditions O. Schnadel. Zwanzig insgesamt.
Sie geht zur Tür zurück. Ihre Finger berühren leicht das glatte Porzellan des Griffs.
» Nuit rouge ist schon eine ziemlich traurige Fabel … Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht.«
Odon antwortet nicht. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch, wartet, bis sie fertig ist.
Die Fliege hat sich auf seine Papiere gesetzt. Er folgt ihr mit den Augen.
»Sie haben es fünf Jahre aufgehoben, bis Sie es gespielt haben. Sie haben ganz schön lange gebraucht …«
»Alles braucht seine Zeit, Marie.«
Sie denkt darüber nach. Sie sagt, ja, letzten Endes habe er wohl recht, das mache Hoffnung
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