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Die Liebe ist eine Insel

Die Liebe ist eine Insel

Titel: Die Liebe ist eine Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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er den Titel.
    Sie geht zum Fenster, zieht eine Hand aus der Tasche und legt sie auf den Punchingball. Es ist eine Hand mit schmalen Fingern und zarter weißer Haut.
    Vor ihrem inneren Auge ziehen Bilder vorüber. Fragmente. Sie war vierzehn, ihr Bruder hatte einen batteriebetriebenen Computer gekauft. Marie stellte den Computer auf ihre Schenkel. Er diktierte. Sie tippte mit zwei Fingern. Zwei Stunden Betriebsdauer mit der Batterie. Die Notbeleuchtung brannte durch, er erhellte die Tastatur mit seinem Feuerzeug. Dann parkten sie unter einer Laterne am Rand der Nationalstraße.
    Marie dreht sich zu Odon um.
    »Er hat Ihren Namen in einer Zeitschrift gefunden, ein Typ im Süden, der Stücke publiziert und ein Theater hat. ›Das wird ihm gefallen‹, sagte er. Ich war sicher, er glaubte daran … Der Typ im Süden, das waren Sie.«
    Sie zwingt sich zu einem Lächeln, aber es ist eher ein trauriges. Sie hat Staub an den Fingern. Die vielen Seiten, das ergab einen dicken Stapel, sie brauchten einen großen Umschlag. Er benutzte Tesafilm, um ihn fest zu verschließen. Er kaufte Briefmarken, eine ganze Reihe, und klebte sie auf den schweren Umschlag. »Wenn es klappt, bin ich gerettet!«, sagte er, als er ihn in den Briefkasten steckte. Am Tag darauf fing er an zu warten.
    Sie kehrt zum Schreibtisch zurück.
    »Erinnern Sie sich nicht?«
    »Woran?«
    »An das andere Manuskript …«
    Odon zieht lange an seiner Zigarette und bläst den Rauch langsam aus. Er hüllt ihn ein, während er in der Wolke atmet.
    Er erinnert sich.
    Das zweite Manuskript, das Selliès ihm geschickt hatte, trug nicht den Titel Dernier monologue , sondern Anamorphose . Der Briefträger hatte es mit der übrigen Post hingelegt, es war kein Brief dabei gewesen, nur eine Adresse und eine Telefonnummer. Er hatte den Umschlag zusammen mit anderen auf dem Schreibtisch liegen lassen. Erst nach mehreren Tagen hatte er ihn geöffnet und zu lesen begonnen. Es war ein langer, schonungsloser Monolog gewesen, eine Geschichte, geschrieben mit einer Dringlichkeit, die ihn schockiert hatte.
    »Ich bekomme so viele Dinge zugeschickt«, erwidert er.
    Marie versteht.
    »Was haben Sie mit den Texten gemacht, die Sie nicht veröffentlich haben?«
    »Ich habe sie zurückgeschickt.«
    »Und bekommen Sie immer noch welche zugeschickt?«
    »Manchmal.«
    »Und was machen Sie damit?«
    »Ich schicke sie ungeöffnet zurück.«
    Marie nickt. Sie scheint es nicht eilig zu haben, betrachtet die Bücher. Dieser Blick, der über die Bücher gleitet, dauert lange.
    »Ich habe zu tun, Marie.«
    Sie entschuldigt sich, mit roter Stirn, die Hände fest ineinander verschränkt. Sie geht zur Tür. Dreht sich um.
    »Monsieur Schnadel?«
    »Mmm …«
    »Sie haben ein paar Tage nach Pauls Tod angerufen … Meine Mutter hat abgehoben. Ich erinnere mich daran, denn sie hat immer von Avignon geträumt, und Sie haben ihr am Telefon erzählt, dass Sie ein Theater in Avignon hätten.«
    Sie dreht sich zum Fenster. Kleine Vögel fliegen dicht an den Scheiben vorbei, auf der Suche nach Insekten.
    »Was wollten Sie meinem Bruder sagen?«, fragt sie, ohne den Blick von ihnen abzuwenden.
    Er nimmt einen letzten Zug und drückt die Zigarette in einem bereits vollen Aschenbecher aus.
    »Ich wollte mit ihm über seinen Text reden. Es gab Stellen, die man sich noch mal anschauen musste, ich wollte das mit ihm besprechen.«
    »Was hätten Sie ihm gesagt?«
    »Dass es überzeugend ist.«
    »Es ist überzeugend! Cool …«
    Sie neigt den Kopf zur Seite und reibt ihre Arme, als friere sie.
    »Hätten Sie ihn früher angerufen, wäre er vielleicht nicht gestorben … Darüber könnte man auch nachdenken.«
    »Worüber willst du nachdenken?«
    Ihre Augen sind blau, dermaßen hell.
    »Über das Schicksal«, sagt sie.
    Er steht auf und geht zum Fenster. Er will nicht mehr schuldig sein. Er ist es zu lange gewesen. Und für nichts und wieder nichts. Nachts hat es seine Träume vergiftet.
    Er fährt sich mit der Hand über das Gesicht.
    »Ich habe deinen Bruder ein erstes Mal angerufen, aber es ist niemand drangegangen. Das war ein paar Tage vor seinem Unfall. Ein paar Tage später habe ich noch mal angerufen, und eine Frau hat abgehoben.«
    »Meine Mutter.«
    Er sieht sie an.
    »Ich habe ihr gesagt, dass ich Pauls Manuskript hätte und dass ich es publizieren wolle. Sie hat mir geantwortet, dass er tot sei, hat etwas von einem Kranunglück erzählt, eine baumelnde Kette, die ihn im Kreuz getroffen habe, ich habe

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