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Die Liebe ist eine Insel

Die Liebe ist eine Insel

Titel: Die Liebe ist eine Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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für die vergessenen Dinge.
    Das Licht, das durch das Fenster hereindringt, fällt auf die Kartons und den Staub.
    »Wo haben Sie es all die Jahre gehabt?«
    »In einer Schublade.«
    Eine Schublade, immer noch besser als ein Karton.
    Sie bleibt. Es scheint, als wäre sie imstande, noch lange so dazustehen und sich umzuschauen. Auf ihrer Haut mehrere lange schmale Kratzer, sie fügt sie sich mit den Fingernägeln oder mit einer Klinge zu. Ihr Arm sieht aus, als sei er zerschnitten. Sie löst eine Kruste.
    »Was macht deine Mutter?«, fragt Odon.
    »Sie legt an Gewicht zu, kommt bald auf hundertzwanzig. Sie hat weniger Freier als früher.«
    »Und die Dinger da, stören die nicht?«, fragt er und deutet auf die Ringe.

M arie verlässt das Theater. Sie läuft nicht sehr weit. Auf dem Platz ist es heiß, also geht sie in die Kirche und setzt sich, mit hochgelegten Beinen, die Füße auf der vorderen Bank. Eine alte Frau betet ein paar Stühle vom Altar entfernt. Auf den Knien, gekrümmt, vornübergebeugt, den Rosenkranz am Mund, ohne Gesicht, nur ein schwarzer Körper.
    Ein Reiseführer kommt durch das Kirchenschiff auf sie zu, gefolgt von einer erschöpften Gruppe. Er zeigt alles, was es zu sehen gibt, bleibt vor dem Letzten Abendmahl stehen, deutet mit dem Finger darauf.
    »Der dort ist Judas Ischariot.«
    Marie hört den Namen.
    »Ein Verräter«, sagt der Führer.
    Das Wort hallt unter dem Gewölbe.
    Die Alte bewegt den Kopf leicht hin und her. Sie betet oder schläft. Als Paul gestorben war, hatte es keine Messe gegeben, nur traurigen Gesang in einem weißen Raum. Die Freunde waren da, die aus dem Tony und die von den Brücken. Sie haben Bécaud angestimmt, und danach, in den Autos, haben alle bei offenen Fenstern den Tod des Dichters besungen.
    Marie schleicht sich hinter die alte Frau. Sie beugt sich vor, nimmt die gleiche Position ein, das Stirnband zwischen den Händen. Sie beugt den Nacken. Die alten Frauen kennen die Wege, die zu den Göttern führen, sie sind mit ihnen vertraut. Marie schickt ihr Gebet dem der alten Frau hinterher, es wird direkt emporsteigen, denkt sie.
    Sie betet voller Inbrunst, mit zusammengepressten Zähnen.
    Ihr Bruder hieß Paul, wie in dem Lied Redeviens Virginie , ihre Mutter sang es unter den Bäumen, hochschwanger. Marie trällert: »Für eine Nacht werde wieder Virginie …« Je höher ihre Stimme steigt, desto schauerlicher hört es sich an.
    Eine sehr weiße Hand legt sich auf ihren Arm. Sie hebt den Kopf.
    Die alte Frau ist gegangen. Der Führer mit seiner Gruppe ebenfalls.
    »Ich bin der Pfarrer.«
    Marie sieht ihn an.
    »Ich bin der Pfarrer«, wiederholt er.
    »Und ich bin Marie.«
    Er glaubt, sie macht sich über ihn lustig.
    »Soll ich die Glocken läuten und das Wunder verkünden?«
    Marie zuckt die Achseln.
    Sie beugt sich vor, die Arme auf dem Betstuhl. Die Ärmel ihres Hemds sind hochgerutscht.
    Der Priester bemerkt die Kratzer, die Krusten auf der Haut, die schmalen Streifen der Narben.
    »Sie können sie berühren, wenn Sie wollen«, sagt Marie.
    Sie sagt es ohne Wut.
    Er berührt sie nicht.
    Sie steht auf, geht zu dem Fresko und zündet zwei große Kerzen unter dem traurigen Gesicht von Judas an.

D as Wachs schmilzt, läuft an den Kerzen hinunter. Marie betrachtet die Flammen. Sie nähert sich ihnen mit den Händen, dem Gesicht. Sie streicht über die Krusten auf ihrem Arm, weiß nicht, wohin das alles sie führen wird. Dieses Leben, das Erwachsenwerden. Sie weiß nicht, was vor ihr liegt, in dieser Zeit, die man Zukunft nennt und die schon morgen sein wird. Was soll sie mit all dieser Zeit anfangen? Es kommt vor, dass sie den anderen zuschaut, wie sie leben.
    Das Wissen füllt vielleicht die Stunden.
    Sie wendet sich von den Flammen ab.
    Odon hört sie nicht kommen.
    Als er aufblickt, steht sie da, auf der Türschwelle.
    Ihre Haut hat den Geruch der Kirche angenommen.
    »Willst du noch etwas?«
    Sie schiebt die Fingerspitzen in die engen Taschen ihrer Jeans.
    »Er hatte Ihnen vorher noch einen anderen Text geschickt. Vor Nuit rouge … Vorher oder hinterher, das weiß ich nicht mehr …«
    Sie senkt den Kopf, zieht die Schultern hoch, ihr Körper ist plötzlich zu groß.
    »Den habe ich getippt«, sagt sie.
    Sie saßen zusammen im Lieferwagen, draußen ein Hundewetter, überall Pfützen. Paul öffnete das Handschuhfach und nahm einen Stapel Blätter heraus. »Lass uns das tippen!«, sagte er. Dernier monologue , letzter Monolog, sollte es heißen. Später änderte

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