Die Liebe ist eine Insel
nähert einen Finger ihrem Mund, berührt den Ring in Maries Lippe.
»Wozu dient er?«
»Zu nichts.«
»Dann ist er wie Einsteins Rätsel …«
Er erklärt es ihr, zeichnet fünf Häuser auf seinen Schenkel und deutet mit dem Finger auf die Dächer.
»Diese fünf Häuser haben nicht die gleiche Farbe. In jedem wohnt eine Person einer anderen Nationalität. Jeder Hausbesitzer bevorzugt ein bestimmtes Getränk, raucht eine bestimmte Zigarettenmarke und hält ein bestimmtes Haustier. Keiner hält das gleiche Tier, raucht die gleiche Zigarettenmarke und trinkt das gleiche Getränk.«
Er holt ein Stück Papier aus seiner Brieftasche. Eine große karierte Heftseite.
Er sieht Marie an.
»Machen wir weiter?«
Sie nickt.
Er liest, was dort geschrieben steht.
»Der Engländer wohnt in dem roten Haus. Der Schweizer hält einen Hund. Der Däne trinkt Tee. Das grüne Haus steht links von dem weißen. Der Besitzer des grünen Hauses trinkt Kaffee.«
Er liest langsam.
Julie und die Jungs kommen dazu und gehen um den Fisch herum. Odon lehnt sich an die Mauer und verschränkt die Arme.
Jeff gibt das Blatt Marie.
Die Fortsetzung des Rätsels ist lang. Sie liest still.
Die Person, die Pall Mall raucht, hält einen Vogel. Der Besitzer des gelben Hauses raucht Dunhill. Der Mann, der im mittleren Haus wohnt, trinkt Milch. Der Norweger wohnt im ersten Haus. Die Person, die Blends raucht, wohnt neben dem Mann, der eine Katze hält. Die Person, die ein Pferd hält, wohnt neben dem Dunhill-Raucher. Die Person, die Blue Master raucht, trinkt Bier. Der Deutsche raucht Prince. Der Norweger wohnt neben dem blauen Haus. Der Blends-Raucher hat einen Nachbarn, der Wasser trinkt.
»Man muss denjenigen finden, dem der Fisch gehört«, sagt Odon mit müder Stimme.
Julie zuckt die Achseln.
»Er hat uns Luculus versprochen, wenn wir die Antwort finden.«
Greg setzt sich neben Marie.
Er sagt, Luculus sei eines der berühmtesten Restaurants von Avignon.
»Er verspricht es, weil er weiß, dass niemand die Lösung finden wird …«
Marie lächelt und steckt das Blatt in ihre Tasche.
M athilde ist vor einer guten Stunde gekommen. Sie hat vorher angerufen.
Isabelle presst Orangen in Gläser aus. Sie hat ihre Augen geschminkt, ausgetrocknete Wimperntusche, die sich staubig auf ihre Wangen legt.
Im Wohnzimmer riecht es nach Armen Rittern, Honig und Zucker. Die Scheiben liegen auf kleinen Tellern, dekoriert mit Johannisbeertrauben. Auf den Tellern sind die sieben Zwerge abgebildet. Sie sind unter den Scheiben verschwunden.
In einer Schale liegen Früchte: Pfirsiche, Aprikosen, Mirabellen.
Sie reden leise. Eine langsame Unterhaltung mit langen Blicken, geduldig. Ein Wiedersehen.
Mathilde trägt ihr Haar offen.
Alles hier ist ihr vertraut, die Gerüche, die Gegenstände, sogar Isabelles gealtertes Gesicht.
»Dein Haus ist immer mein Zufluchtsort gewesen …«
Isabelle lächelt.
»Als du von zu Hause weggegangen bist, bist du hierhergekommen.«
Dann ging sie nach Lyon und kam erst zehn Jahre später zurück … Wegen Odon. Sie war dreißig.
»Du hast mein erstes Bühnenkostüm genäht.«
»Als dein Vater das erfuhr, wollte er dich nicht mehr zu mir zurückkehren lassen.«
»Aber ich bin zurückgekommen …«
Sie erzählt von den Jahren im Pensionat.
Isabelle reibt ihre Hände.
»Deine Mutter wusste, dass du Schauspielunterricht genommen hast.«
Mathilde blickt auf.
»Woher wusste sie es? Hast du es ihr gesagt?«
»Nein. Sie hat es erraten. Ich kann dir sogar sagen, dass sie stolz auf dich war, weil du deinem Vater die Stirn geboten hast.«
Mathilde sitzt eine Weile schweigend da. Sie sieht das Gesicht ihrer Mutter vor sich, ihren distanzierten Blick, der stets ihrem Vater recht gab.
»Ich habe gelogen, und sie hat es gewusst …«
»Du hast nicht gelogen, du hast dich widersetzt«, sagt Isabelle.
Die Mütter müssen also sterben …
Sie war keine sehr lustige Mutter. Mathilde hat nie zu ihr gesagt: Ich liebe dich. Liebte sie sie? Eines Abend kam sie nach Hause, ihr Vater saß im Wohnzimmer. Über der Lehne eines Stuhls hing eine neue Uniform für das Internat. Er sagte nichts, deutete lediglich mit dem Finger auf sie. Er blickte nicht einmal von seiner Zeitung auf.
Es war nicht einfach, zwischen ihnen aufzuwachsen. Man wünschte sich zwangsläufig woandershin.
»Er hat mich teuer bezahlen lassen für meinen Schauspielunterricht.«
Isabelle legt die Hand auf Mathildes Arm.
»Als du gekommen bist, hast du deine
Weitere Kostenlose Bücher