Die Liebe ist eine Insel
Isabelle.
Marie schüttelt den Kopf.
Isabelle zögert.
»Alles in Ordnung?«
»Ja.«
Isabelle schließt die Tür. Marie setzt sich wieder auf die Matratze.
Sie lächelt leise.
Odon hat gesagt, komm nach der Vorstellung, wenn alle weg sind.
Sie schaut auf die Uhr. Noch ein paar Stunden.
Sie rollt sich zusammen.
Sie schläft nicht.
Denkt an ihren Bruder.
Schließlich lacht sie laut, die Hände vor dem Gesicht.
Die Jogar hat nachgegeben. Die Karten haben ihren Widerstand gebrochen.
Heute Abend wird ihr Bruder höher fliegen als die Toten. Sie wird seine Worte hören.
Ungeduldig, unfähig, ruhig im Zimmer zu bleiben, geht sie ins Freie.
Place des Châtaignes. Stoffstreifen hängen an den Fenstern. Ganze Scharen roter Herzen. Auch auf den Tischen Herzen, ebenfalls rot.
Sie schlendert umher.
Es wird Abend.
Noch eine Stunde. Sie setzt sich auf die Bank. Holt den Cid hervor. Blättert darin. Ihr ist nicht nach Lesen zumute.
Sie betrachtet den Platz.
Sie fragt sich, ob sie allein im Saal sein wird, wenn sie der Jogar zuhört.
D ie Jogar kommt nach der Vorstellung ins Chien-Fou.
Sie geht durch den Flur. Die Schauspieler sind weg. Sie trägt ein schwarzes Kleid und eine doppelreihige Halskette aus Steinen.
Odon ist in seinem Büro. Eine Lampe brennt. Er hat die Türen verschlossen.
Sie sehen sich an, wechseln leise ein paar Worte.
Sie erzählt von den Postkarten, die sie bekommen hat.
»Dieses Mädchen geht mir auf die Nerven, ich werde tun, was sie von mir verlangt, und dann sprechen wir nicht mehr davon.«
Odon ist angespannt.
Sie ist es auch.
»Das muss endlich aufhören«, sagt sie.
Spielen, damit es ein Ende hat.
Sie geht in den Saal, ein Sitz am Mittelgang.
Marie kommt ein paar Minuten später. Leicht verlegen macht sie ein paar Schritte auf sie zu.
Sie muss noch näher gehen.
Sie ist neben ihr. Die Jogar steht nicht auf.
»Ich werde für dich spielen, es wird keinen Fehler geben, ich werde bei keinem Wort hängenbleiben, aber danach will ich nie wieder etwas von dir hören. Sind wir uns einig?«
Marie nickt.
Ihre Augen blinzeln nicht.
Die Jogar steht auf.
»Aber du wirst nicht Anamorphose hören … Anamorphose gibt es nicht mehr. Was ich spiele, ist etwas anderes.«
Sie macht ein paar Schritte, bleibt stehen, dreht sich um.
Sie kommt zu Marie zurück.
»Du wolltest wissen, was ich getan habe, während dein Bruder sich umbrachte?«
Sie fährt mit den Fingern über die Sitzlehne.
»Es ist mir unmöglich, mit Odon Schnadel allein in einem Raum zu sein, ohne das Verlangen zu haben, mit ihm zu schlafen …«
Sie blickt Marie an. Dieses eigenartige, verletzte, geschundene Gesicht.
»Wir waren zusammen am Meer, ich nehme also an, dass ich mit ihm geschlafen habe, während dein Bruder starb.«
Sie berührt mit der Hand leicht Maries Wange. So viel Schönheit für so viel Schmerz.
Sie wendet sich ab, geht zur Bühne. Odon erwartet sie am Vorhang.
»Könntest du ein bisschen Licht machen?«
Ihre Hand verweilt auf seinem Arm.
Er geht durch den Mittelgang, an Marie vorbei. Er sagt kein Wort zu ihr. Sieht sie nicht an. Er betritt den kleinen Raum für die Lichtregie. Im nächsten Augenblick erscheint ein goldener Kreis auf der Bühne, glänzend wie ein Mond.
Die Jogar tritt in diesen Kreis. Es ist schwierig für sie, vor einem leeren Saal zu spielen. Ihre Stimme braucht das Echo der Körper, muss den Widerhall in der Wärme von Männern und Frauen spüren, die gekommen sind, um sie zu hören.
Noch schwieriger ist es, nur für eine Person zu spielen.
Am schwierigsten ist es, den ersten Satz zu sagen. Sie hat den Text nie vergessen, seit fünf Jahren ist er fest in ihrem Gedächtnis verankert.
»Der alte Juanno ist heute Morgen gestürzt. Er war kräftig, trotzdem hat ein harter Winter es geschafft, ihn niederzuzwingen.«
Die Sätze fügen sich aneinander. Das Gedächtnis verrät sie nicht. Anamorphose war viel mehr als nur Worte, es hat sie aus ihrer Langeweile und Einsamkeit befreit. Ein vergessenes Wort, und die Energie ist futsch, das gilt auch für sie.
Marie erstarrt.
Odon ist im Raum für die Lichtregie geblieben. Außer ihr ist niemand im Theater. Jedes Wort, das sie spricht, ist auf Maries Sitz gerichtet.
Marie hört zu. Sie denkt an Paul.
Für ihn macht sie das alles. Für sein Andenken, seine Geschichte.
Sie erkennt die Worte, lässt sich vom warmen Klang ihrer Stimme tragen.
Die Jogar ist erstaunlich. Die Worte setzen sich in ihrem Hals fest, steigen aus ihrem
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