Die liebe Verwandtschaft
die Zeit schneller verging. Ohne nachzudenken, stimmte ich in ein frohgemutes »Hava-Nagila-Hava« an, aber das Lied erstarb auf unseren Lippen, als wir Renanas gerunzelte Stirn sahen.
Was nun?
Ich beherrsche keine Kartenkunststücke, für Eiscreme war es zu kalt und das Bolschoi-Theater ist nicht in Paris. Also was tun?
»Möchtest du vielleicht Schnurspringen?«, fragte meine Frau behutsam. Renana stand wortlos auf, ging ans Fenster und starrte auf den Pariser Antennenwald. Uff!
»Ich glaube, dass es hier im Hotel einen Swimmingpool gibt«, versuchte ich es aufs Neue.
»Was?«
»Schwimmen.«
»Ödet mich an.«
Ich weiß nicht, was als Nächstes geschah. Oder besser, ich weiß es genau. Ich packte eine große Alabastervase, die auf dem Tisch stand, erhob sie hoch über meinen Kopf und schmetterte sie auf den Boden.
»Das ödet dich an?«, brüllte ich, von patriarchalischem Zorn übermannt. »Von mir aus kannst du angeödet bleiben bis ans Ende deiner Tage. Ich habe genug!«
Renana bückte sich, hob einige Scherben der Vase vom Teppich auf und eilte in eine Ecke des Zimmers.
»Schön«, sagte sie, während sie sich in den Türkensitz begab, »damit kann ich › Steinchen ‹ spielen.«
Und schon begann sie, die Alabasterscherben einzeln in die Höhe zu werfen, um sie nach einem unergründlichen Spielritual wieder aufzufangen. Sie warf und fing, warf und fing …
Ich fragte mich, wie lange man das um Gottes willen betreiben könnte!
Die Antwort war einfach. Fünf Tage lang. Fünf Tage in der herrlichen Stadt Paris verbrachte Renana damit, am Boden des Hotelzimmers zu sitzen, um kleine Stücke einer zerbrochenen Vase in die Luft zu werfen und aufzufangen …
»Danken wir Gott für diese Scherben«, flüsterte die beste Ehefrau von allen.
»Was?«
»Scherben.«
Nach fünf Tagen kehrte Renana glückselig nach Hause.
»Es war großartig«, erzählte sie ihrer Freundin Nava am nächsten Tag. »Paris ist Spitze.«
Reisen bildet.
Compukortschnoi
Onkel Benno kam aus Amerika zu Besuch und brachte Geschenke für die ganze Familie mit. Als ich das mir zugedachte auspackte, fand ich ein flaches Kästchen vom Umfang eines Taschenbuchs, mit 16 blitzblanken Druckknöpfen versehen.
»Damit du dich nicht langweilst«, grinste Onkel Benno. »Ein Schach-Computer.«
Ich liebe das Schachspiel seit meiner Jugend. Die ganze Weisheit des Fernen Ostens liegt darin. Schriftsteller, besonders Satiriker, haben eine ähnliche Neigung zum Schach wie Politiker zum Poker. In den frühen Vierzigerjahren war ich sogar drauf und dran, ein Schachbuch zu schreiben. Leider kamen mir die Nazis dazwischen und ich bin damals nur ganz knapp dem drohenden Matt entronnen.
Im Durchschnitt verbringe ich jetzt 36 Stunden täglich mit Onkel Bennos Geschenk. Wir beginnen schon am Morgen zu spielen, noch während ich mich rasiere, und hören erst auf, nachdem ich mit dem Kästchen im Arm zu Bett gegangen bin. Verdrängter Sex? Homoerotische Tendenzen? Möglich. Ich muss gestehen, dass ich an meinem hübschen Spielgefährten mit den süßen Blinkeknöpfchen leidenschaftlich hänge.
Und er ist nicht nur hübsch, er ist auch gescheit. Mit seinem kleinen, zarten Stimmchen piepst er nach jedem Zug – einmal, wenn’s theoretisch ein richtiger Zug war, zweimal, wenn ich einen Fehler gemacht habe. Sein Gegenzug erscheint in roten Chiffren auf einer eigens für ihn eingebauten Fläche.
Ich nenne ihn Compukortschnoi, weil er ein guter Spieler ist. Er ist auch ein guter Verlierer. Wenn ihm klar wird, dass ich die Partie gewinne, lässt er ein trauriges Blinksignal aufleuchten: »I give up« (ich erwähnte schon, dass er aus Amerika kommt). Manchmal hingegen, wenn die Partie sich zu seinen Gunsten wendet, schaut er mich verächtlich an und es erscheint rot auf seiner Fläche: »You bum«, was soviel heißt wie: »Du Patzer«. Und wenn er in eine bedrängte Situation gerät, verlangt er mehr Zeit zum Nachdenken. Er benimmt sich ganz wie ein Mensch. Ob er eines Tags zu sprechen beginnen wird, mein Compukortschnoi? Russisch? Jiddisch?
Die beste Ehefrau von allen hält mich für verrückt, aber das ist natürlich nur Eifersucht. Sie versteht eben nichts vom Schach. Ihre Beziehung zur Geisteswelt des Fernen Ostens beschränkt sich auf Yoga und Joghurt.
Was den Umgang mit Compukortschnoi besonders reizvoll macht, ist die Möglichkeit, mitten in der Partie seinen Intelligenzquotienten zu ändern, genauer: seine schachlichen Fähigkeiten zu steigern oder
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