Die Liebe verzeiht alles
unglücklich. „Elan hat mir erzählt, dass die Geister unserer Ahnen bei uns bleiben und er Leute kennt, die hierherkommen, um mit ihnen zu sprechen. Aber ich habe geredet und geredet, und keiner hat geantwortet. Ich schätze, meine Mutter …“ Sie schwieg einen Moment, denn Tränen erstickten ihre Stimme. „Sie wollte wohl nicht bleiben.“
„Oh, mein Schatz.“ Lilah umfasste das Gesicht ihrer Tochter und sah sie in dem trüben Taschenlampenschein eindringlich an. „Nein, das stimmt nicht. Deine Mom … Grace … hat dich nicht verlassen. Sie wird dich nie ganz verlassen. Du kannst jederzeit mit ihr sprechen und brauchst dazu nicht auf den Friedhof zu gehen. Sie ist hier und hier.“ Kurz berührte sie Brees Kopf und legte ihr dann die Hand auf die Brust. „Wenn du mit Grace reden möchtest, setz dich einfach eine Weile still hin und hör auf dein Herz. Alles Liebevolle, was es dir sagt, stammt von ihr.“
„Sie hat mir erzählt, dass meine biologische Mutter mich geliebt hat“, erwiderte sie heiser. „Dass sie … du mich deshalb weggegeben hast.“
„Ja.“ Lilah hockte sich neben ihre Tochter und hoffte inständig, sie würde die richtigen Worte finden. „Als ich dich zum ersten Mal in mir gespürt habe, wusste ich, du würdest ein wundervolles Kind werden. Ich hatte damals für mich selbst noch keine Lebensplanung, wollte aber unbedingt, dass es dir an nichts fehlt. Du solltest all die Dinge bekommen, von denen ich keine Ahnung hatte, wie ich sie dir geben könnte.“
„Kleidung, ein Auto und so etwas?“
Lilah verzog das Gesicht. „Daran dachte ich eigentlich nicht. Zumindest ging es mir nicht hauptsächlich darum.“ Forschend blickte sie Bree an. „Ich bin noch immer nicht in der Lage, dir tolle Klamotten zu kaufen. Aber ich kann dir beibringen, wie man in Secondhandshops Schnäppchen findet. Was den Wagen betrifft, solltest du lieber nicht auf mich zählen. Bei meinem momentanen Verdienst werden wir beide vielleicht demnächst aufs Rad umsteigen müssen. Wo ist deins überhaupt?“
„Ich habe es im Gebüsch versteckt, falls jemand nach mir suchen sollte.“
„Du wirst ganz bestimmt eingesperrt“, sagte Lilah, und das Mädchen lächelte verhalten. „Doch jetzt zu den wesentlichen Dingen, die ich dir nicht geben konnte. Da wären zum einen Sicherheit und Geborgenheit. Und natürlich Disziplin. In dieser Hinsicht war ich ein hoffnungsloser Fall.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wie sollte ich jemanden zur Disziplin erziehen, wenn ich selbst vollkommen undiszipliniert war? Auch wenn du es vielleicht nicht so siehst, sind Stabilität und Beständigkeit für ein Kind sehr wichtig. Sonst wächst es nämlich leicht mit dem Gefühl auf, dass keiner das Heft in der Hand hält. Und das kann ganz schön nervend sein.“
Bree hörte ihr zwar aufmerksam zu, schien sie aber nicht wirklich zu verstehen. Lilah seufzte. Wie in aller Welt erklärte man einer Elfjährigen etwas, was sogar für viele Erwachsene schwer begreiflich war?
„Ich glaube, das ist eine ‚Du-musst-es-erleben-Sache‘“, sagte Bree schließlich bedächtig.
„Wie bitte?“
„Meine Mom …“ Sie zögerte kurz, als wüsste sie nicht mehr, wie sie Grace im Gespräch mit Lilah nennen sollte. „Immer, wenn sie mir etwas erklärt hat und meinte, ich würde es nicht verstehen, hat sie gesagt: ‚Das ist eine Du-musst-es-erleben-Sache.‘ Ich sollte dann einfach zuhören, es nicht vergessen und mir keinen Kopf machen, wenn ich es nicht sofort begriff.“
„Deine Mom war wundervoll. Ich hoffe, du lässt mich weiter von ihrer Klugheit profitieren, denn ich bin vielleicht nicht von Anfang an so patent, wie sie es gewesen ist. Doch will ich es ehrlich versuchen, Bree. Mit ganzer Kraft. Gibst du mir … uns … eine Chance, Mutter und Tochter zu sein?“, fragte sie fast schüchtern. „Ich bin jetzt wesentlich älter und inzwischen etwas klüger als bei deiner Geburt. Und ich weiß, dass man nicht immer eine zweite Chance im Leben erhält. Ich will diese nicht vermasseln“, schloss sie, und Bree lächelte leise.
„Ich schätze, ja. Und was ist mit … ihm?“
„Gus?“, fragte Lilah nach, und Bree nickte. „Er war der Erste, den ich angerufen habe, als ich dein Verschwinden bemerkte. Obwohl er noch ziemlich ärgerlich auf mich war, ist er sofort gekommen. ‚Wir werden sie finden‘, hat er gesagt und dich ‚unsere Tochter‘ genannt.“
Sie beobachtete, wie Bree gegen ein Lächeln ankämpfte. „Gus war als Teenager
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