Die Liebe verzeiht alles
sah sie ihn von der Seite an. Er wirkte ungeheuer angespannt. Warum war er bei ihr und zeigte sich so … warmherzig? Als er ins Wohnzimmer gekommen war, hatte es sich so richtig für sie angefühlt, dass seine Beweggründe egal gewesen waren.
Und auch jetzt hatte sie keine Zeit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Sie akzeptierte einfach, dass Gus für sie da war. Dasselbe würde auch sie in einer vergleichbaren Situation für ihn tun. Und weiter würde sie nicht denken, denn sie brauchte ihre ganze Energie für die Suche nach ihrer Tochter.
Gus’ Handy klingelte, und sie zuckten beide zusammen. Er ließ Lilahs Hände los, klappte das Handy auf und meldete sich. „Danke Loida, geben Sie ihn mir“, sagte er, nachdem er zunächst nur zugehört hatte. „Elan, woran hast du dich erinnert, mein Sohn?“
Lilahs Herz begann, wie verrückt zu klopfen. Nicht vor Angst, sondern voller Hoffnung. Wenn Gus doch bloß etwas sagen und ihr einen Anhaltspunkt liefern würde, was der Junge ihm berichtete.
„Nein, Elan, du hast nichts Falsches gesagt“, erklärte er schließlich. „Das war sehr gut, dass du mich angerufen hast. Ich bin stolz auf dich. Richte Loida bitte aus, dass ich mich melden werde, sobald ich etwas weiß.“
Gus beendete das Telefonat, ließ das Handy zuschnappen und wandte sich Lilah zu. „Elan ist eingefallen, dass er mit Bree über den Friedhof gesprochen hat.“
„Über den Friedhof?“
„Ja. Einer Legende der Lakota-Indianer zufolge können die Menschen mit den Geistern ihrer verstorbenen Lieben Verbindung aufnehmen. Bree hat Elan erzählt, dass ihre Mutter gestorben sei und sie sich wünschen würde, sie könnte mit ihr reden, weil sie ihr gern einige Fragen stellen würde. Da hat der Junge ihr von der Legende mit dem Friedhof berichtet. Ich denke, es wäre einen Versuch wert.“ Gus zog eine Braue hoch und wartete auf Lilahs Entscheidung.
„Ja, lass uns hinfahren.“
„Vielleicht sollten wir besser zum Haus zurückkehren und mit der Anrufaktion beginnen“, schlug Lilah vor. Gus und sie hatten den kleinen Friedhof problemlos betreten können, da er weder von einer Mauer noch einem Zaun umgeben war. Nun hatten sie alle Gräberreihen abgeschritten, aber nicht den geringsten Hinweis auf Bree entdeckt. „Falls sie sich bei jemandem aus Grace’ Freundeskreis …“
„Pscht.“ Gus hob die Hand und lauschte. „Hörst du das?“ „Nein, und ich möchte jetzt wirklich zurück, um zu telefonieren. Ich fange wieder an, entsetzlich nervös zu werden.“
Gus bedeutete ihr, ruhig zu sein und ihm zu folgen. Und während sie den Weg zurückgingen, den sie gerade gekommen waren, nahm Lilahs Unruhe weiter zu. Sie erreichten das Ende der Reihe, doch Gus blieb nicht etwa stehen, sondern steuerte auf einen baufälligen Geräteschuppen zu.
„Dort sind wir schon gewesen. Er ist abgeschlossen“, beschwerte sich Lilah, und er wandte sich kurz um und legte einen Finger auf den Mund.
An der Rückseite des Schuppens verharrte er und zeigte zu der Bretterwand. Lilah sah erst auf den zweiten Blick, worauf er sie aufmerksam machte. Eine der faulenden Planken war gebrochen, und das entstandene Loch war groß genug, dass ein Kind hindurch schlüpfen konnte.
Gus fasste sich ans Ohr, und Lilah lauschte angestrengt.
Momente später hörte sie ein kurzes Wimmern, und sie schöpfte neue Hoffnung. Fassungslos sah sie Gus an. Wie hatte er es von so weit her hören können?
Lächelnd zuckte er die Schultern und sagte leise, während er ihr die Taschenlampe gab: „Geh und hol Bree. Ich verständige deine Schwestern und Loida.“
10. KAPITEL
„Bree?“
Lilah leuchte mit der Taschenlampe durch den Schuppen, und schließlich erfasste der Lichtkegel das Mädchen. Bree kauerte in einer Ecke, hatte die Arme um die Knie gelegt und wirkte unendlich einsam und verloren.
Lilah eilte auf sie zu und vergaß ihre Angst, die sie bislang davon abgehalten hatte, das Mädchen zu umarmen. Sie ging in die Hocke, während sie zugleich die Lampe weglegte, und zog ihre Tochter an sich.
„Dem Himmel sei Dank, dass dir nichts passiert ist! Alle sind auf der Suche nach dir.“ Sie presste Bree so fest an sich, dass diese die Beine ausstreckte, um nicht erdrückt zu werden. „Du hast mich zu Tode geängstigt. Lauf bitte nie wieder weg. Denk noch nicht einmal daran. Egal, aus welchem Grund. Hast du gehört? Sonst werde ich dich einsperren, bis du dreißig bist.“
„Ich wollte mit meiner Mom reden.“ Bree schniefte
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