Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
stellte sich sehr bald als Irrtum heraus.
Mütter
In einer dunklen Seitengasse hinter einem vor kurzem bankrottgegangenen Fischrestaurant stehen sie, die Mütter, meist sechs oder sieben ältere Damen in langen Regenmänteln aus den 50er Jahren. Manche tragen die bei Kunden besonders beliebten topfförmigen Hüte, andere dagegen schwören auf Lockenwickler, die in ihren Frisuren hängen wie erfrorener Christbaumschmuck. Ihre Hände stecken in halbdurchsichtigen und mit kleinen Ornamenten verzierten Spitzenhandschuhen, wie man sie Toten anzieht, die einen ganzen Tag lang aufgebahrt vor Verwandten liegen müssen. Es ist November, das Wetter nass, kalt und unfreundlich, und die Polizeikontrollen sind seltener geworden. Vor ein paar Minuten ist ein Streifenwagen vorbeigefahren, und die Beamten haben die Scheibe heruntergekurbelt und sich kurz mit den Frauen unterhalten. Einer von ihnen hat sogar ein paar Schokoriegel verteilt. Dann sind die bärtigen Männer weitergefahren. Jetzt wird es mit Sicherheit mehr als vier Stunden dauern, bis sie sich wieder blicken lassen. Vielleicht kommen sie auch gar nicht mehr.
Die Damen gehen die ganze Nacht hier auf und ab. Um Kunden anzulocken, nesteln sie an den runden, an farbige Hustenbonbons erinnernden Knöpfen ihrer Regenmäntel, schieben ihre viel zu großen Lesebrillen auf die Stirn oder suchen in ihren Kunstlederhandtaschennach Feuchtigkeitscreme für die Hände. Manchmal heben sie auch einen Zeigefinger und schütteln ihn auf tadelnde Art und Weise. Diese Geste ist universell und wirkt beinahe immer.
Ein junger Mann um die zwanzig nähert sich den Damen. Er hat sein Fahrrad in einiger Entfernung abgestellt und geht so unauffällig wie möglich die dunkle Seitengasse entlang. Seine Haare sind seit mindestens einer Woche nicht mehr gewaschen worden, seine Brille ist schmierig von Fettflecken und Fingerabdrücken, und als er für einen Augenblick stehenbleibt, um sich ein Schuhband zuzubinden, wird ein kleiner karoförmiger Riss auf dem Rücken seiner Jacke sichtbar. Bevor er eine der Mütter anspricht, schaltet er sein Mobiltelefon aus. Er wartet sogar, bis das Display dunkel geworden ist, dann erst geht er weiter. Offenbar macht es ihm nichts aus, dass sein Unterhemd aus der Hose hängt und seine Oberlippe und seine linke Wange mit Schokolade verschmiert sind. Sein Mund sieht nicht so aus, als würde er häufig benutzt werden. Gut möglich, dass er in den letzten Wochen mit überhaupt niemandem gesprochen hat. Insgesamt macht er einen gutmütigen, aber auch etwas verstörten Eindruck. Genau die Sorte Männer, die sich oft in die schmale Seitengasse hinter dem ehemaligen Fischrestaurant verirren.
Irma ist die Erste, die sich ihm nähert.
– Hallo, sagt sie.
Er weicht ihr zuerst aus, als wäre er gar nicht interessiert, dann bleibt er stehen und blickt sie von der Seite genauer an.
– Philipp, sagt er und streckt die Hand aus.
– Mutter Irma, sagt Irma.
Sie ist die älteste der Mütter. Meist überlassen die anderen ihr den ersten Kunden, weil sie Irma alle irgendeinen Gefallen schulden. Doch am Gesichtsausdruck des jungen Mannes sieht man, dass er an Irma nicht interessiert ist. Vielleicht ist es das Kopftuch, das inzwischen zu ihrem Markenzeichen geworden ist, aber nicht mütterlich wirkt, sondern eher verkrampft, wie bei einer verarmten Marktfrau.
Agathe wittert ihre Chance und geht auf den jungen Mann zu. Ulrike folgt ihr.
– Die Geier kommen schon, sagt Irma sanft und nimmt ihre breitrandige Brille in die Hand. Also, was ist?
– Hallo, sagt der junge Mann zu Agathe und Ulrike. Guten Abend.
– Sieht er nicht süß aus?, sagt Irma und deutet mit der Brille auf sein ängstliches Gesicht. Aber angekleckert hat er sich.
Sie nimmt ein Taschentuch aus ihrem Mantel, leckt es ab und wischt dem jungen Mann damit über die Wange.
– So … schon besser.
– Ich finde nicht, dass er süß aussieht, unterbricht Agathe. Der tut nur so. In Wirklichkeit ist er ein Versager, der seine Eltern nur alle heiligen Zeiten besucht oder anruft. Ist doch so, oder?
Seine Reaktion verrät ihr, dass sie ins Schwarze getroffen hat. Der junge Mann lächelt sie an. Er braucht es, das spürt Agathe. Er braucht es dringend.
– Ich heiße Philipp, sagt der junge Mann. Wie viel für …
– Für?
– Für eine Nacht.
– Die ganze Nacht?, fragt Agathe nach.
– Ja.
– Dreihundert.
Der junge Mann blickt zu Boden und legt eine Hand auf seinen Hinterkopf.
– Sagen wir
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