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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
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böse?, fragt er.
    Gott sei Dank, denkt Agathe. Er schmilzt.
    – Nein, natürlich bin ich dir nicht böse, sagt sie.
    Es wird spät. Philipp sitzt neben ihr auf dem Sofa und sieht mit ihr fern. Aber Agathe wird müde und beschließt, ihn ins Bett zu schicken. Er gehorcht und lässt sich sogar von ihr zudecken. Sie zieht ihm die Bettdecke genau bis ans Kinn. Sie sieht, wie er sich genüsslich unter der kühlen Decke ausstreckt. Er holt tief Luft, rollt sich auf die Seite.
    – Schlaf gut, flüstert sie.
    Nachdem sie das Licht im Kinderzimmer ausgeschaltet und die Tür ganz leise hinter sich geschlossen hat, weiß sie, was nun von ihr erwartet wird. Sie setzt sich ins Nebenzimmer und sieht weiter fern. Viele Kunden lieben es, wenn das bläuliche Flimmern des Fernsehbildschirms im unteren Türschlitz zu sehen ist. Das Flimmern bedeutet: Jemand ist da, jemand ist noch wach und passt auf die Wohnung auf. Sie schaltet durch die Kanäle und findet ein paar Sendungen, die sie interessieren. Die Wiederholung einer alten Columbo -Folge,eine Komödie mit Christiane Hörbiger. Sie fragt sich, ob Philipp ihr am Morgen vielleicht das Fahrrad leihen wird. Manche ihrer Kolleginnen würden jetzt die Wohnung nach Geld durchwühlen, aber hier ist nicht viel zu erwarten. Außerdem ist es schon oft vorgekommen, dass ein Kunde spätnachts noch einmal aufgestanden und zu der Mutter im Nebenzimmer gegangen ist, um seinen Kopf in ihren Schoß zu legen. Für die meisten ist dieser Zusatzdienst sogar die Hauptsache. Das Beste ist, denkt Agathe und setzt sich die Kopfhörer auf, wenn man Verlässlichkeit signalisiert und bis zum nächsten Morgen einfach still sitzen bleibt. Dann ist man wirklich professionell.
    Und tatsächlich kommt Philipp gegen zwei Uhr aus seinem Zimmer, das linke Hosenbein seines Pyjamas ist ihm bis übers Knie hochgerutscht, und er muss es schütteln, damit es herunterfällt.
    – Ich kann nicht schlafen, klagt er.
    Agathe blickt ihn freundlich an und tätschelt den Sofaplatz neben sich. Philipp setzt sich neben sie.
    – Was stimmt denn nicht?
    – Ach, Dinge, die mir im Kopf herumgehen, erklärt er achselzuckend. Komplizierte Dinge.
    Dann lässt er sich fallen, sein Kopf streift Agathes Schulter und nähert sich ihrem Schoß. Sie hält ihn auf.
    – Das kostet extra, flüstert sie.
    Sie bemüht sich, diese Information so fürsorglich und mütterlich auszusprechen, als gehörte sie mit zur Vorstellung. Es wirkt, Philipp nickt nur.
    – Dreißig, flüstert Agathe.
    Philipp lässt sein müdes Haupt in ihren Schoß sinken. Er schließt die Augen und murmelt:
    – Dreißig, vierzig, fünfzig …
    In Zehnerschritten zählt er weiter. Bei neunzig hört er auf, leckt sich die Lippen und scheint einzuschlafen. Aber Agathe weiß, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit noch wach ist. Sie hat einige Erfahrung mit jungen Männern, die sich schlafend stellen. Sie sieht es an seinem Atemrhythmus, an der wachen Nervosität seiner Augenlider und, natürlich, an den Bewegungen seines Adamsapfels. Schlafende schlucken seltener. Immerhin scheint es ihm zu gefallen. Und es ist ihm egal, dass ihn dieser Dienst zusätzlich Geld kosten wird. Also doch, denkt Agathe. Er kennt sich aus, er tut das nicht zum ersten Mal. Sie denkt an sein unschuldiges Gesicht, als er nach den Geldscheinen suchte, und lächelt. Bei früheren Gelegenheiten hat Agathe manchmal ein Auge zugedrückt und die Kunden gratis auf ihrem Schoß schlafen lassen. Die meisten waren ihr sehr dankbar dafür und wurden in der Folge zu Stammkunden; also hat sich die Investition sozusagen gelohnt, denkt Agathe. Es ist eben von Fall zu Fall unterschiedlich. Manche jungen Männer sehen so aus, als brauchten sie es dringender als andere, sie tragen einen falschen Scheitel am Kopf und viel zu große Hosen und reden praktisch nur von irgendwelchen Filmen, deren Namen Agathe noch nie gehört hat, oder davon, dass sie ihre Geschwister nie sehen, weil die in einer anderen Stadt leben. Man kann ihnen einfach nicht böse sein. Man gibt es ihnen beinahe umsonst, das ganze Programm. Natürlich immer nur beinahe .
    Agathe seufzt und betrachtet den zufriedenen Menschen, dessen Ohr zwischen ihren Knien liegt. Er ist definitiv keiner jener Männer, denen sie es beinahe gratisgeben würde. Er muss zahlen; wenn er sich weigert, weiß sie, wen sie anrufen kann. Aber trotzdem ist bei ihm irgendetwas anders, etwas, das sie sich nicht erklären kann, langjährige Erfahrung hin oder her. Es ist

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