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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
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die Wahrheit war doch, dass Trevor versagt hatte, der Roboter funktionierte noch nicht richtig. Der Kopf war übergekocht, hatte die Beherrschung verloren, nachdem er ein paar Takte harmloser Musik gehört hatte. Mit solch einem Geschöpf würde er niemals ernsthaft überMusik diskutieren können. Er hatte keine gute Arbeit geleistet. Er war zu grob, zu ungeduldig vorgegangen. Er musste noch einmal von vorn beginnen.
    Als Trevor an diesem Tag in seinem Bett lag und durch das Rundfenster in der Decke des Schlafzimmers ins Schwarze starrte, fragte er sich, ob er möglicherweise von ganz falschen Erwartungen ausgegangen war. Vielleicht war es ja gar nicht möglich, diese Musik zu begreifen, wenn man nicht in dem Kulturkreis aufgewachsen war, aus dem sie stammte. Vielleicht brauchte man, um ihre Würde, ihre Schönheit zu verstehen, die Erinnerung an alte europäische Städte, mit ihrem Kopfsteinpflaster in den Straßen der Altstadt, mit ihren verwinkelten – oder nach anderen längst vergessenen Prinzipien der geometrischen Raumaufteilung angeordneten – Gässchen, von denen manche wie Witze, deren Pointe niemand mehr weiß, plötzlich irgendwo aufhören, an einer Mauer oder einem Kanal, mit schönen, sonnigen Plätzen hinter Kirchen, mit plätschernden Brunnen und Statuen, auf denen Tauben sitzen, mit Häusern, an denen verwitterte Messingtafeln verkünden, dass hier ein Maler geboren worden war oder dass das Gebäude zur Zeit des Krieges als Kinderlazarett genutzt wurde, mit Universitäten und Museen, die von oben betrachtet kaum auseinanderzuhalten sind, mit Musikern und Bettlern an den ewig gleichen Straßenecken in den Fußgängerzonen, mit alten Wahrzeichen, mit noch älteren Gasthäusern, mit Häuserfassaden, aus denen wappenartige Zunftzeichen ragen, mit Parks, in denen sich die Monumente der Erinnerung eng aneinanderdrängen, steinerner Kopf an steinernem Kopf, mit Friedhöfen, die längst aus ihren ursprünglichenMauern herausgewachsen sind und nun, erwachsen und rechthaberisch wie der Tod selbst, expandieren. Städte, in denen zu bestimmten Zeiten die Luft erfüllt ist vom untemperiert gestimmten Glockengeläut aus den Kirchen. Trevor bemerkte, dass er weinte. Das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Schlafanzugs übers Gesicht. Selber schuld, dachte er. Er hätte eben nicht an Glocken denken dürfen. Er besaß zwar einige Audioaufnahmen vom Glockengeläut aus verschiedenen Städten, in denen er gelebt hatte, aber die hörte er sich niemals an. Nein, Glocken und Fußballspiele, das waren zwei Dinge, die all ihren Reiz verloren, wenn man sie auf Magnetband aufzeichnete. Es war wichtig, zu wissen, dass sie in genau diesem Augenblick stattfanden, an einem nahen oder fernen Ort. Aber hier, auf Character IV , war Gleichzeitigkeit nicht leicht zu bekommen. Sie war eine seltene und teure Ware, eine Information, über die sich nur Experten problemlos unterhalten konnten, man musste über allerlei seltsame Theorien Bescheid wissen und andauernd in Blitzen denken, die an zwei verschiedenen Orten einschlugen, oder in Zügen, die sich mit sehr hoher Geschwindigkeit voneinander fortbewegten. Solchen Unfug musste man beherrschen, sonst verstand man nichts und berechnete alles falsch. Und das alles war ihm immer zu viel gewesen. Also hatte er den Gedanken an Gleichzeitigkeit irgendwann einfach aufgegeben. Es war, abgesehen von der Musik, der letzte ihn mit seinem früheren Leben verbindende Draht gewesen, den er gekappt hatte. Der grüne. So wie in den alten Filmen. Und die Bombe war nicht explodiert, sondern hatte gutmütig weitergetickt. Und er hatte gewusst,dass sie ihm nichts mehr anhaben konnte, die Bombe des Heimwehs, der Nostalgie, der alten Geschichten von zuhause. Von einem Tag auf den anderen hatte er aufgehört, darüber nachzudenken, was wohl genau in diesem Augenblick zuhause vorgehen mochte, denn die Formeln, die er dafür hätte berechnen, und die Raumzeitkrümmungen, die er hätte berücksichtigen müssen, gingen über seinen Verstand. Also hatte er es sein lassen. Einfach so. Und die Musik war an den Platz all der unangenehmen Gefühle getreten, er hatte seine Erinnerungen an Glockengeläut mit verschiedenen Musikstücken in Schach gehalten, mit gregorianischen Chorälen, mit Stücken der russischen Spätromantik. Dieses eine Präludium von Rachmaninow zum Beispiel, in G-Dur, Opus 32, Nr. 5. Aber jetzt hatte er einen kleinen Rückfall erlitten, hatte geweint und an

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