Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
Vom Netzwerk:
des Roboterkopfes verbunden. Eine Diode leuchtete grün, das bedeutete, dass der Stromfluss richtig verlief. Im Raum war es vollkommen still. Trevor traute sich kaum zu atmen. Er näherte sich dem Ohr mit seinem Mund, holte sanft Luft und begann dann die berühmte Melodie zu summen, ganz leise, um den pränatalen Gehörsinn des Roboters nicht zu überfordern. Die Diode leuchtete weiter grün, und Trevor summte die Melodie, und es kam keine Reaktion vom Roboter, aber das hatte er ja erwartet, und bestimmt war das ein gutes Zeichen. Trevor musste lachen, es war ein Lachen der Erleichterung. Er klatschte in die Hände, das kleine fürsorgliche Experiment war gut verlaufen. Nachdem er geklatscht hatte, begann die Diode plötzlich zu flimmern. Außerdem vibrierte jetzt der ganze Roboterkopf wie das Geländer in einem Treppenhaus, gegen das jemand in einem oberen Stockwerk getreten hat. Schnell tastete Trevor nach dem Ausschaltknopf, aber da war es schon zu spät, eine kleine Explosion stieß seine Hand zurück, eine Flamme zuckte auf, und der Roboterkopf fiel von der Werkbank auf den Boden. Nein, nein, rief Trevor, trat von einem Fuß auf den anderen und hielt sich die Stirn mit beiden Händen. Nein, das hätte nicht passieren dürfen, das war schrecklich, er hatte ihm wehgetan – Trevor rannte aus dem Zimmer und setztesich in der Kochnische auf einen Sessel. Mit zitternden Händen tastete er nach etwas, das auf dem Tisch stand. Er nahm gar nicht wahr, was es war, er betastete es, blickte es an. Es war der weiße Schachkönig. Sein Gesicht bestand nur aus einem Paar eingeschnitzter Augen und einem angedeuteten Vollbart. Trevor hatte zu schwitzen begonnen. Die Arbeit von Wochen, von Monaten … durch Leichtsinn … reine Dummheit. Er erhob sich und ging zurück in das Hinterzimmer. Todds Kopf lag in der Dunkelheit, surrte und gab hin und wieder ein seltsames Geräusch von sich, eine Mischung aus einem pfeifenden Teekessel und dem ungeduldigen Freizeichen eines Telefons. Trevor ging näher und berührte den blechernen Schädel mit einem Stock, es zischte, Funken sprühten aus der leeren Augenhöhle. Bestimmt litt der Kopf, so allein auf dem Boden und weit entfernt von seinem Körper, entsetzliche Qualen. Er wusste nicht, wo er war, was er war, ja nicht einmal, ob er war. Er befand sich in einer seltsamen Vorhölle, wie ein blind und taub geborenes Kind, das nur eines kennt: grauenhafte Schmerzen. Das Ohr, an dem Trevor so lange geduldig gearbeitet hatte, lag einige Meter von dem verzweifelt zischenden und pfeifenden Kopf entfernt im Staub. Trevor betete, dass es durch den Sturz nicht allzu sehr beschädigt worden war. Aber er konnte sich jetzt nicht darum kümmern, er musste zuerst den Roboterkopf ganz abschalten, damit dieser von seiner orientierungslosen Qual erlöst wurde. Er fasste vorsichtig nach dem Kopf und hob ihn hoch. Ein ungesundes Rattern und Summen setzte ein. Trevors Finger tasteten nach dem Ausschaltknopf im Nacken. Er fand ihn, drückte ihn, aber es geschah nichts. Vielleicht war der Knopfkaputt. Oh Gott, dachte Trevor. Nicht der Ausschaltknopf! Schnell trug er den Roboterkopf zu seiner Werkbank und legte ihn mit dem halb fertigen, eingedellten Gesicht nach unten auf das Holz. Ein metallenes Wimmern drang jetzt aus dem abgetrennten Rachenbereich des Roboters. Gleich, dachte Trevor, gleich ist es gut, du musst nicht mehr lange leiden. Der Roboterkopf gab ein Gurgeln von sich, das wie eine defekte Klospülung klang. Trevors Finger zitterten. Und je mehr er sich auf das Umdrehen der winzigen Schrauben im Nacken konzentrierte, desto schlimmer wurde es. Er musste für einen Moment aufhören und seine Hände ausschütteln. Reiß dich zusammen!, sagte er laut zu sich selbst. Er schaffte es, alle Schrauben zu entfernen, der Hinterkopf des Roboters fiel mit einem befreienden Vakuumzischen ab. Vor ihm lag das zentrale Nervensystem, ein kleiner, zerbrechlich aussehender Kristall aus mehrdimensionalen Relais. Man sah auf den ersten Blick, wo das Problem lag: Der Kontakt, der sich hinter dem roten Ausschaltknopf befand, war verrutscht. Nicht weit, aber weit genug, um funktionslos zu werden. Trevor stellte den Kontakt behutsam wieder her und drückte den Knopf. Stille kehrte ins Zimmer zurück. Kein Laut drang mehr aus dem Roboterkopf, kein Zischen, kein Gurgeln und kein Flehen um Erlösung. Er hatte es geschafft. Nein, er hatte es nicht geschafft. Es war ja nur eine Notlösung, eine Verhinderung von noch mehr Leid –

Weitere Kostenlose Bücher