Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
Vom Netzwerk:
zum Horizont blickt. Das habe ich gemacht, dachte er. Das habe ich erschaffen. Es tat gut, so etwas zu denken. Man war im Einklang mit der Natur, mit sich selbst. Zuhause hätten ihn die Leute ausgelacht für diese Gefühlsregung. Wahrscheinlich hätten sie ihn zu einem Therapeuten geschickt und ihm befohlen, seine kindliche Seite zuzulassen, die ausschließlich auf Zerstörung aus war. Nun ja, früher war das ja auch so gewesen. Früher hatte er viel kaputt gemacht. Drunten auf der Erde. Merkwürdig … Er dachte an die Erde immer noch als etwas, das sich weit unter ihm befand. Er war in die Höhe geflogen und saß jetzt auf einem kugelförmigen Objekt hoch über seiner Vergangenheit. Dabei war alles relativ. Alles, die Zeit, der kalte, dunkleWeltraum außerhalb der Kuppel, sogar das Lebensalter zweier Menschen, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit durch das Universum bewegten. Alles war immer relativ. Außer der Musik.
    Trevor ging in seine Kochnische und schlug zwei Eier in eine Pfanne. Während sie im Öl zischten und brutzelten, versuchte er sich vorzustellen, wie der Roboter seine ersten Tage wahrnehmen würde. Natürlich war dieses Gedankenexperiment unsinnig, niemand konnte sich in einen künstlichen Organismus hineinversetzen. Er würzte die fertigen Spiegeleier mit Salz und Pfeffer (die Streuer hatten die Form von Schachfiguren, ein weißer und ein schwarzer König, die niemals ein Schachbrett betreten hatten) und summte dabei leise eine Melodie. Vielleicht wäre es das Beste, wenn Todd als Erstes seine Stimme hörte, die ihm ein Lied vorsang. So machte das die Natur doch auch. Trevor hatte zwar keine besonders schöne Singstimme, aber die Tonhöhen traf er doch recht gut. Und auf sängerische Perfektion kam es ja nicht an, sondern auf die Gewöhnung an die Stimme seines Erbauers. Ja, mit Sicherheit war das eine essenzielle Erfahrung für jedes junge Lebewesen. Von ihm, von dem auch alle anderen guten Dinge kommen würden, mussten auch die ersten Melodien kommen. So würde der Roboter den Eindruck von Musik immer mit Geborgenheit verbinden und sich dadurch einen emotionalen Panzer aneignen für die beunruhigenderen Stücke der Musikgeschichte, die in Trevors Plattensammlung auf ihn warteten, zum Beispiel das ganze Spätwerk von Schubert, die Kindertotenlieder von Mahler oder die Variationen für Orchester von Anton Webern, jenes seltsame Werk, bei dem man beim Zuhörenein fiebertraumartiges Gefühl bekam, als würde das eigene Denken in winzig kleine Stücke zerlegt, so klein wie die Schaltkreise auf einem Mikrochip. Nur ein in frühen Jahren erworbenes Grundvertrauen in das Leben konnte einen vor solchen Phänomenen metaphysischer Verinselung bewahren. Ich werde früh damit beginnen müssen, sagte er sich, während er die Eier aß. Sie schmeckten vorzüglich. Jawohl, früh damit beginnen. Warum nicht gleich heute? Es konnte nicht viel schiefgehen. Er würde das Ohr am Kopf befestigen und dann den unfertigen Roboter in Betrieb nehmen. Für einen kleinen Probelauf, der noch keinerlei intelligentes Verhalten von ihm erforderte, war er sicher schon bereit. Trevor stellte den Teller auf den klirrenden Geschirrturm im Waschbecken, ließ etwas Wasser darüberlaufen und verschob den Abwasch um einen weiteren Tag. Er musste zurück zur Werkbank, zurück zu Todd. Welche Melodie sollte er ihm vorsummen? Es durfte nichts Schwieriges, nichts Bedrohliches sein. Etwas, was Würde ausstrahlte und väterlichen Stolz. Er überlegte. Ein paar Stücke von Brahms kamen ihm in den Sinn, aber die waren rhythmisch zu anspruchsvoll. Was wäre mit Edward Elgar, dem Anfangsthema des Cellokonzerts? Er hatte die Aufnahme mit Jacqueline du Pré sicher schon Hunderte Male angehört, er kannte jede Note auswendig. Mit vor Aufregung zitternden Händen schraubte er das halb fertige Ohr an Todds halb fertigen Kopf. Er wusste, er durfte noch keine Reaktionen von ihm erwarten, nicht einmal ein Blinzeln oder so, der Roboter schlief noch in dem Limbus der Ungeborenen, in seinem künstlichen Uterus, der Werkbank im Hinterzimmer seines kleinen Hauses auf CharacterIV . Sollte er den Kopf auch am Rumpf befestigen? Das hatte er schon einmal gemacht, probeweise, und es hatte ganz gut funktioniert, zumindest hatte der Kopf keine Abstoßreaktion gezeigt und auch keine Zeichen von Verwirrung. Aber vielleicht war es dafür noch ein wenig zu früh. Trevor entschied sich, den Kopf vorerst isoliert zu lassen. Das Ohr war nun mit der Metallschläfe

Weitere Kostenlose Bücher