Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Glocken gedacht. Früher waren sie ihm doch die meiste Zeit auf die Nerven gegangen. Er war nicht religiös, und die Musik, die sie erzeugten, war auch nicht besonders interessant, meist nur leere Quinten oder ein unreiner Dur-Akkord. Aber trotzdem, am Morgen, wenn es mit dem Geläut losging, wurde die Luft des ganzen Bezirks davon reingewaschen, es war, als würde die Stadt mit Mundwasser gurgeln, das gleich auch noch die Atemwege befreite. Außerdem konnten die Glocken in einer Stadt die Stimmung der Zeit widerspiegeln, in Krisenzeiten klangen sie anders, wälzten sich unruhiger von der einen auf die andere Seite, wie Schläfer mit schrecklichen Träumen, und besonders schlimm war es, wenn die Geister von frisch Verstorbenen in den Kirchtürmen Zuflucht suchten vor den Bombeneinschlägen und gellenden Sirenen der vergangenen Nacht. Dann läutetendie Glocken am Morgen, als bewegten sie sich durch einen zähflüssigen Widerstand, wie ein Löffel, der beim Umrühren in einem vollen Joghurtbecher an die Ränder klopft.
Trevor stand auf und kletterte auf das Dach seines Hauses, so wie er es jeden Morgen tat. Er überlegte, ob er den halb fertigen Roboter noch einmal einschalten sollte. Aber dann quälte ihn die Vorstellung, dass Todd völlig durchdrehte, mit seinen viel zu kurzen Gliedmaßen panisch an sich herumtastete und ein metallenes Gurgeln ausstieß, wie ein Flehen, ihn wieder abzuschalten, er ertrug die Welt nicht, die Zumutungen der Sinneseindrücke. Und Trevor stellte sich vor, wie er zum Grammophon ging und Wagner auflegte, laute und komplizierte Musik. Der Gnadenschuss, der den Roboter wie ein Schlag mit einem Hammer auf den Hinterkopf trifft. Trevor blickte durchs Fernrohr, das er gleich nach seiner Ankunft auf dem Dach angebracht hatte. Die Linse war staubig geworden, er wischte sie mit einem Zipfel seiner Pyjamajacke sauber. Dann tunkte er sein Auge – immer das rechte – in das angenehme Schwarz des Raumes. Ein Stern glitzerte kurz am Rand des Teleskopbildes und verschwand gleich wieder. Das Universum, eigenartig, es enthielt Objekte, war aber selbst kein Objekt. Wie soll das funktionieren, dachte Trevor, wer soll da noch Ruhe bewahren? Er machte vom Teleskop ein paar Schritte zum Rand des Daches. Dort stand eine Sitzbank, gerade einmal lang genug, dass sich ein einzelner Mensch darauf ausstrecken konnte. Er setzte sich und blickte hinunter auf seinen Garten, auf die kleine Straßenlaterne, auf die Glashülle, die ihn umgab. Bei bestimmten Lichtverhältnissenwar sie so durchsichtig, dass man sie fast für unsichtbar halten konnte. Ein Meteoritenschauer zog über den Horizont. Kleine, leuchtende Gesteinsbrocken, die sich nicht auflösten, weil Character IV keine Atmosphäre besaß. Sie schlugen in einigen Kilometern Entfernung in den Staub ein. Er wirbelte auf, eine schöne, fast symmetrische Wolke, die in ihrer Form kurz an einen Rhombus erinnerte. Trevor fühlte die sanften Vibrationen des Einschlags. Nach einer Weile stieg er über die kleine Außenleiter wieder nach unten, ging ins Haus und setzte sich dort in sein Wohnzimmer vor den riesigen Schrank mit der Plattensammlung. Wenn er sich verloren fühlte, hatte er bisher immer die geeignete Musik für diesen Zustand gefunden. Musik, die diesen Zustand auflöste. Entweder die späten Streichquartette von Beethoven oder das Weiße Album der Beatles oder Prokofiev, alles von Prokofiev. Aber jetzt erschienen ihm all diese Platten wertlos. Er hatte sie alle schon unzählige Male gehört. Er konnte sie auswendig. Sein Gehirn vergaß nicht so schnell. Es hatte nicht einmal den Geruch der Straßen am Morgen vergessen, jeden Tag nach dem Aufstehen gaukelte es ihm diesen Geruch vor. Und sein Kopf war von früh bis spät voller Musik. Alter und neuer Musik. Lauter und leiser. Alles durcheinander. Alles gleichzeitig. Im Grunde war Musik etwas Furchtbares, dachte Trevor. Sie zwang alles in ihre Rhythmen, sie gab einem Ohrwürmer, die dann eine ganze Weile nicht mehr aus dem Gedächtnis verschwanden, sie versetzte einen in Stimmungen, die nichts mit der Realität zu tun hatten.
Er nahm das erste Album von ganz links aus dem obersten Regal und ließ die Schallplatte herausrollen. Der Moment, wenn die Kante der Platte seine Hand trafund er sie auffing, hatte ihm früher (früher, vor einem Jahr, gestern Vormittag) ein Gefühl von elementarer Geschmeidigkeit gegeben. Alles wurde dann glatt und angenehm, die Welt war in Ordnung. Die Welt war eine Scheibe, die
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