Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
Vom Netzwerk:
wenigstens nur wenige Fehler. Der Rumpf war schon seit einigen Wochen fertig, eine Metallbox mit zwei Stummelärmchen.(Man durfte einem Roboter, der noch keinen Kopf besaß, keine voll funktionstüchtigen Arme geben, da es schon vorgekommen war, dass die Arme selbständig wurden und herumtasteten und in ihrer groben Entdeckerlust vielleicht sogar kleinere Gegenstände kaputt machten.) Der Kopf war etwa zur Hälfte fertig, den Mund konnte man bereits erkennen, die beiden Kiefer, das Kinn. Im Augenblick arbeitete Trevor gerade an einem Ohr. Es lag unter dem Vergrößerungsglas, daneben ein Sortiment kleiner Instrumente. Für das Ohr ließ er sich besonders viel Zeit, denn schließlich hatte er vor, dereinst mit dem Roboter über Musik zu diskutieren. Musik war Trevors einzige Leidenschaft. Er hatte von der Erde kaum etwas mit hierhergenommen, hatte alles zurückgelassen – außer seiner großen Schallplattensammlung. Davon hatte er auf kein einziges Exemplar verzichten wollen. Jeden Tag nach dem Aufwachen setzte er sich in seinen Lehnstuhl und hörte sich eine Platte an, meist etwas Freundliches und Kraftvolles, wie Dvořák oder Brahms. Wenn ihm das Ohr des Roboters nicht gelang, konnte er das ganze Projekt gleich an den Nagel hängen. Er hatte sich auch schon einen Namen für den Roboter überlegt: Todd. Er wusste nicht, warum ihm dieser Name besonders passend erschien, es klang einfach nach einem Roboter. Wenn er mit Todd eines Tages über Musik diskutierte, musste er es auf alle Fälle langsam angehen lassen. So wie bei der mechanischen Konstruktion des Roboterkörpers würde es auch Ruhe und Besonnenheit erfordern, um den kindlichen Roboterverstand in den eines Musikliebhabers zu verwandeln. Man durfte auf keinen Fall aus nichtigen Gründen die Geduld verlieren und in einen Befehlstonüberwechseln. Bestimmt würde es einige Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern, bis der Roboter in der Lage war, ein differenziertes, tatsächlich ernst zu nehmendes Urteil über ein bestimmtes Musikstück abzugeben. Bis dahin würde er wahrscheinlich Mag nicht oder Das ist schön sagen, eben Dinge, die Kinder sagen, wenn sie Musik hören. Verbalisierte Reflexe, nichts weiter. Es würde behutsames Timing und pädagogisches Feingefühl erfordern, um den Roboter nicht schon in jungen Jahren zu verschrecken oder zu traumatisieren, etwa indem er ihm zu viele oder zu komplexe Musikstücke vorspielte. Nein, man musste mit kurzen, einfachen Stücken beginnen, Mozart natürlich, vielleicht auch Vivaldi, Melodien, die man sofort begreifen und ohne große Schwierigkeiten im Gedächtnis behalten konnte. Dann würde er allmählich übergehen zu den mathematisch anspruchsvolleren Kompositionen der Barockkomponisten, an deren Spitze in Ewigkeit der heilige Johann Sebastian Bach stand, aber selbst von ihm, von diesem göttlichen Genie, durfte er anfangs nicht zu viel vorspielen. Die Kunst der Fuge beispielsweise würde er aufsparen, solange es ging. Wie würde Todd wohl auf das erste Mal reagieren, da Trevor ihm Musik vorspielte? Welches Stück würde das erste sein? Trevor hatte keine Ahnung, was er zuerst gehört hatte. Er bezweifelte, dass es überhaupt Menschen gab, die das wussten. Auf der Erde war man andauernd von Musik umgeben. Die ersten paar Takte der Erkennungsmelodie einer Fernsehserie oder den Klingelton eines Telefons hörte man bestimmt schon im Mutterleib, während sich die Schaltkreise im Gehirn erst langsam aus dem Chaos herauskristallisierten. Dieser Gedankebrachte ihn zu einer überraschenden Einsicht: Auch der Roboter befand sich im Augenblick im Mutterleib, in gewissem Sinn. Dies hier, der Arbeitstisch und die feinen Instrumente und Metallteile waren seine Gebärmutter. Und die riesige Lupe, durch die Trevor auf ihn hinunterblickte, war … Aber es lag auch kein Gewinn darin, solche Vergleiche auf die Spitze zu treiben. Nachdem er drei Stunden an dem Ohr gearbeitet hatte, war er erschöpft und hungrig, aber er fühlte sich großartig. Es war ein Gefühl, als hätte er gerade eine ganze Stadt erbaut, mit eigenen Händen. Die meisten Menschen auf der Erde verstanden solche Empfindungen nicht mehr, oder sie machten sich über sie lustig, oder sie beschimpften sie als vorsintflutlich und höhlenmenschartig. Er aber empfand Stolz, im alten Sinn, einen männlichen, einfachen, aufrichtigen Stolz. Den Stolz eines Bauern, der nach drei Stunden zum ersten Mal wieder den Rücken gerade biegt, sich den Schweiß von der Stirn wischt und

Weitere Kostenlose Bücher