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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
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friedlich um ihr leeres Zentrum rotierte. Und der Tonabnehmer berührte sie, sanft, als würde er sie küssen. Wie ein Tier, das seine Zunge in den Uferstrom eines Flusses hält und sich erfrischt. Albéniz, die Iberia -Suite. Er gab der Schallplatte einen Kuss auf das bauchnabelartige Loch in der Mitte, ließ sie noch einmal, wie ein großes zweidimensionales Mondgesicht, auf ihre hundert Kolleginnen blicken und sich durch eine kleine Verbeugung von ihnen verabschieden, dann legte er sie auf den Boden.

Eine sehr kurze Geschichte
    Nach einem langen und harten Arbeitstag im Büro stellte Lilly fest, dass auf ihren Schulterblättern kleine Flügel gewachsen waren: schmutzig rosafarbene, verletzlich wirkende Hautgebilde, die wie Gelsenstiche juckten und sich von ihr mit einiger Willensanstrengung sogar ein wenig hin und her bewegen ließen. Vor lauter Angst schnitt sich Lilly die Flügel mit einer Schere ab und spülte sie im Klo hinunter. Sie überlegte, ob sie vielleicht nachwachsen würden, aber diese Sorge erwies sich als unbegründet. Die Flügel kamen nie mehr wieder, egal wie lang und hart Lillys Arbeitstage auch waren, bis ans Ende ihres kurzen Lebens.

Kleine braune Tiere
    da lag er mit einer geschwindigkeit von 29,76 kilometer in der sekunde.
    Konrad Bayer
    For when his own light went out he was not left in the dark.
    Samuel Beckett
1. Wer war M. D. Regan?
    Es gilt als eines der geheimen Meisterwerke unserer Epoche. Was Ulysses für den modernen, Gravity’s Rainbow für den postmodernen, Infinite Jest für den postpostmodernen und schließlich Jimmy Corrigan – The Smartest Kid on Earth für den Comic-Roman war, das ist Figures in a Landscape für das bisher von den meisten ernsthaften Menschen nicht ganz zu Unrecht belächelte Medium des Computerspiels. Bis zum Erscheinen des Spiels im Herbst 2007 hatten Computerspiele den Ruf, doch nur mehr oder minder primitive Instinkte anzusprechen und sich höchstens auf dem Niveau von Werbespots mit der Wirklichkeit zu befassen. Eine gewisse Ernsthaftigkeit in ihrem Anspruch gestand man nur jenen Rollenspielen zu, die ihren Benutzern einen großzügigen kreativen Freiraum bieten. Doch noch nie stand in einem Computerspiel die Kreativität des Herstellersso alles beherrschend im Vordergrund wie im Fall von Figures in a Landscape : das schwierige, tragische, anarchisch-lebenspralle, letztendlich aber an der Welt verrückt gewordene Genie von Marc David Regan.
    Sein Spiel hat die Auffassung der Welt von Computerspielen von Grund auf verändert. Und das, obwohl kein einziger Mensch es je zu Ende gespielt hat. Das letzte Level kann – darüber sind sich die Kritiker einig – nicht durch das Spiel selbst erreicht werden. Vor einem Jahr wurde die Entdeckung des letzten Levels zum ersten Mal auf einem Symposion erwähnt. Sofort entstand eine hitzige Diskussion unter Fans und Kritikern, an welcher Stelle des weitläufigen Programmcodes von Figures in a Landscape es wohl versteckt sei und ob man es als gesondertes Modul in Betrieb nehmen könne. Diese Diskussion verdanken wir im Grunde zwei Personen: Eine davon ist eine gewisse Maggie Phillips, eine kleine, aschblonde Frau mit riesengroßen Ohrringen und einem starken Südstaatenakzent. Sie stellte auf dem Symposion, an dem ich als Gasthörer teilnahm, einige Kapitel aus ihrer umfassenden Regan-Biografie mit dem Titel A Solitary Figure vor, an der sie damals gerade arbeitete. Vor kurzem ist diese Biografie erschienen und klettert nun tapfer die Bestsellerlisten auf und ab. Der andere, der vom letzten Level zu berichten wusste, war der bekannte Regan-Experte Konrad Lauffer. Diese beiden Vortragenden hatten am Ende die Teilnehmer des Symposions in zwei erbittert streitende Lager gespalten – aber greifen wir nicht vor.
    Marc David Regan, der begnadete Universalpoet unter den Spieleprogrammierern, wurde 1986 in Manchester geboren. Seine Eltern waren Diplomaten. Seine ältere Schwester starb bei einem Skiunfall, als Marc ein Jahr alt war. Schon in jungen Jahren musste er mit seiner Familie häufig umziehen, wohnte zeitweise in Dänemark, Russland, Deutschland, den Vereinigten Staaten und Italien. Bei einer solchen Kindheit könnte man eigentlich davon ausgehen, dass er vielsprachig und in einem Gefühl des Weltbürgertums aufwuchs. Aber der kleine Marc war ein scheues, in seinen ersten Jahren beinahe autistisches Kind, das so gut wie keinen Kontakt zu anderen Kindern hatte. Aus seiner frühesten Jugend sind kaum Fotografien

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