Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
überliefert. Auf den wenigen, die man in Lexikonartikeln oder auf Internetseiten findet, sieht er aus wie ein völlig normales, über den Gang der Welt tief betrübtes Kind.
Schon früh wollte Marc nichts anderes werden als Schriftsteller. In seinem Nachlass fanden sich Tausende in seiner charakteristischen winzigen Handschrift 1 beschriebene Seiten, vor allem Romane, Erzählungen und Gedichte. Sogar ein paar selbst gefertigte Comics und großformatige pornografische Zeichnungen sind darunter. Diese nie veröffentlichten Werke lassen sich bis in das Jahr 1998 zurückdatieren, also in eine Zeit, als Marc gerade einmal zwölf Jahre alt war. Anfang 2004 erschien sein einziger Gedichtband zu Lebzeiten, Landscapes and Mousepads in dem winzigen Verlag Hydrocephalic Lollipops Press. 2
Seine außerordentliche künstlerische Begabung und der alles beherrschende Wunsch, Dichter zu werden, brachten ihn früh in Schwierigkeiten. Seine erste Schule in Manchester musste er verlassen, weil er einem Kind, das eines seiner Gedichte laut vor der Klasse vorgelesen hatte, die Nase brach.
Genauso charakteristisch wie seine bis zur Gewalttätigkeit gehende Verteidigung seiner künstlerischen Produktion waren seine unberechenbaren Kursänderungen. Mit siebzehn schrieb er sich als Student der Mathematik an der University of London ein. Für ein halbes Jahr war er völlig verwandelt, jeder Gedanke an Literatur und grafische Kunst schien vergessen. Er beschäftigte sich ausschließlich mit Geometrie und numerischer Mathematik, vor allem mit dem damals besonders populären Gebiet der Fraktale. An einen Freund schrieb er:
Ich weiß nicht, warum nicht alle Menschen von diesen wunderbaren Objekten fasziniert sind. Immerhin sind es Dinge, die ZWISCHEN den Dimensionen existieren! Stell dir das einmal vor! So wie diese Wesen in unseren Science-Fiction-Romanen mit ihren hundert Augen und ihrem exakten Wissen über die gesamte Vergangenheit und Zukunft. Manche von ihnen existieren tatsächlich zwischen z. B. zweiter und dritter
Dimension, in etwa so stelle ich mir – bitte verzeih diese Geschmacklosigkeit – einen Wachkoma-Patienten vor, der weder vor (aufstehen, frühstücken, leben) noch zurück (… into the valley of the shadow of death ) kann.
Anfangs habe ich gelacht über den Professor, der bei Vorlesungen scherzhaft verkündet hat, das stärkste religiöse Erlebnis in seinem Leben seien die Nullstellen der Riemann’schen Zeta-Funktion gewesen. Jetzt habe ich ähnliche Empfindungen, wenn ich auf dem Computer eine Unterwasserfahrt ins Seepferdchental der Mandelbrot-Menge unternehme und mir ansehe, wie sich die dazugehörende Julia-Menge unter Schmerzen krümmt. 3
Das Jahr 2004 war noch nicht zu Ende, da wurden die wunderschönen Fraktale durch eine andere Liebe ersetzt. Marc hatte sich eines Tages aus einer Laune heraus beim Literarischen Colloquium Berlin um ein Aufenthaltsstipendium für fremdsprachige Schriftsteller beworben. Er erhielt das Stipendium, packte seine Sachen und flog nach Berlin. Seine Nachbarn in dem berühmten Haus waren ein litauischer Lyriker und eine schwedische Dramatikerin. Drei Monate lang wohnte er in einem kleinen Zimmer mit Blick auf den Wannsee. Während dieser Zeit schrieb er beinahe nichts, mit Ausnahme von Briefen an seine Eltern in England. Sie zeigen ihn als heiteren, hoffnungsvollen jungen Mann, der mit den Dämonen, die sein späteres Leben bestimmensollten, noch nicht in Berührung gekommen ist. Entgegen seiner Gewohnheit hielt sich Marc nur wenig auf dem Gelände des LCB auf. Jeden Morgen fuhr er mit der S-Bahn in die Stadt und trieb sich dort in Kinos, Comicläden und Cafés herum. Eines Tages begegnete er in einem Internetcafé einer jungen Frau namens Sarah. Er versicherte ihr bereits bei ihrem ersten Rendezvous, dass er für sie Deutsch lernen wolle, und schon am nächsten Abend saß er in einem Kurs. Dann kam es, wie es kommen musste. Sie fuhr für zwei Wochen auf Urlaub und kam verlobt zurück. Marc war verzweifelt. Er brach den Kurs ab und schloss sich in seinem kleinen Zimmer ein, ohne Frau, ohne Zukunft und mit einem Kopf voller nutzloser deutscher Vokabeln.
2. Das Spiel
Mit der rätselhaften Rest-Energie eines zu Tode Betrübten begann Regan in diesen Tagen voller Verzweiflung und Selbstmitleid mit einem neuen Projekt, einem Computerspiel. Ursprünglich war es als reiner Zeitvertreib gedacht, als kleine wissenschaftliche Fingerübung, die lediglich verhindern sollte, dass das Wissen
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