Die Lieben meiner Mutter
ein Insekt auf einem Felsvorsprung kleben, hörte die Ausrufe der Beobachter –jetza derpackt er’s! –, bis einer die Stille durch einen Aufschrei zerriss: Nix is, abi geht’s! Himmelherrgottsackra!
Ich sah, glaubte zu sehen, wie sich der dunkle Punkt von der Wand löste und abwärtsglitt, zwischendurch vom Schatten eines überhängenden Felsvorsprungs verschluckt, dann, viel weiter unten, noch einmal von einem einfallenden Sonnenstrahl erfasst wurde und endgültig im Dunkel verschwand. Sein Sturz erschien mir unbegreiflich langsam, wie die Bewegung einer Fliege, die an einer Wand hinabläuft.
Als nichts mehr zu sehen war, brachen einige auf, um die Reste des Unbelehrbaren einzusammeln und ins Dorf zurückzubringen. Aber er war nie tot. Er brauchte den Rest des Jahres, um sich zusammenflicken zu lassen, und war im nächsten oder übernächsten Frühjahr wieder bereit.
Niemand tadelte ihn. Seine Tat bewies, dass man im Dorf bleiben musste, auf dem Grund des Tals, und der Versuch, die Welt jenseits der Felswände zu erreichen, zum Scheitern verurteilt war. Mehrmals bin ich Zeuge seiner Aufbrüche gewesen. Bis zu dem Tag, an dem ich seine Mutter mit irrem Blick an unserem Haus vorbei zum Zigeunerwald laufen sah. Eine ganze Woche lang ging sie auf dem Weg hin und zurück, immer dasselbe Stück, das Gesicht und die Augen zum Kleinen Waxenstein gewandt. Ihr Blick suchte den Sohn immer noch, dort oben in der Wand. Niemand hatte ihn gefunden.
Von da an war ich für alle Zeit gegen die Anziehung vonhimmelhohen, senkrecht aufsteigenden Felswänden gefeit. Diese Felswände teilten mir nichts mit, sie hatten keine Macht über mich, sie wollten nichts von mir und ich nichts von ihnen.
Wie hatte die Mutter es in diesem von Wahn und Aberglauben beherrschten Dorf ausgehalten? Wann schrieb sie ihre mondsüchtigen Gedichte? Wann las sie die Bücher von Rudolf Steiner, Sören Kierkegaard und Henri Bergson, die ihre Träume von einer allumfassenden kosmischen Liebe nährten?
Sie liebte die Landschaft, das Licht im Frühling, die himmelhohen Berge, die auch im Sommer von ewigem Schnee gekrönt waren. Die meiste Zeit fühlte sie sich elend und allein in Grainau, dessen Einwohner jeden Fremden misstrauisch betrachteten. Wo kommst du her, was hast du hier verloren, wann fährst du wieder, sagten diese Blicke. Und als Fremder galt jeder, der nicht aus Grainau oder aus der unmittelbaren Umgebung stammte. Aber auch wer in Grainau geboren und getauft war, wurde als ein Fremder angesehen, wenn nicht auch seine Eltern aus dem nächsten Umkreis stammten.
Wann immer ich nachts aufwachte und nach ihr suchte, sah ich die Mutter über ihre Nähmaschine gebeugt. In einem vergilbten Notizbuch finde ich die Zeichnung eines Kostüms, in das mit Bleistift die Maße und der Preis für die Arbeit eingetragen sind. Wenn wir längst schliefen, hat sie viele Stunden mit Schneiderarbeitenfür Nachbarn und Bekannte im Dorf verbracht, die ihr den einen oder anderen Auftrag erteilten. Bezahlt wurde mit Lebensmitteln, Decken, Spielzeug für die Kinder, Geld bedeutete nicht viel. Manchmal nähte sie auch für sich, denn auch in Grainau wollte sie bemerkt werden, ein bisschen Aufsehen erregen. Aus Königsberg hatte sie ihre Silberschuhe gerettet. Der Schuster im Dorf nahm ihren Auftrag, die Schuhe zu reparieren, nicht an, in seiner Werkstatt hatte es gebrannt. So schickte sie die Schuhe zu ihrer Schwiegermutter mit der Bitte, sie schwarz färben zu lassen. Mit einem aufgesteckten Samtband markierte sie die Stellen, wo der Schuster die Lederriemen annähen sollte. Er solle auch die Fersen ausklopfen und mit weichem Leder ausfüttern. Schon nach einer halben Stunde würden ihr die Schuhe sonst riesige Blasen machen. Ich kann mir vorstellen, wie die »liebe Mutter« in Oschatz in der Hungerzeit auf diesen Wunsch der höheren Tochter reagiert hat. Mit einem frommen Fluch!
Nie hat sich die Mutter dem Diktat des Krieges, das die Kleidung der Frauen aufs bloße Wärmen und Verhüllen reduzierte, ganz ergeben. Sie wollte auch in Grainau, etwa bei einer Abendgesellschaft in der Villa eines Städters, auffallen, sie wollte glänzen, einen Auftritt haben. Vor allem aber wollte sie dem einen gefallen, auf dessen Besuch sie hoffte, dessen Briefe sie ersehnte und der viel zu selten kam.
Während ihrer Reisen, ihrer Krankenhausaufenthalte, aberauch während ihrer Spaziergänge mit Gästen, die häufig kamen, überließ sie ihre Kinder der Obhut ihrer Haushälterin
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