Die Lieben meiner Mutter
der dicke Anderl erkannt, desto schneller die Fahrt abwärts, desto schneller ist der Bob im Ziel.
Die Mutter hatte die Lederhose ihres Vaters zerschnitten und aus den Stücken Lederhosen für ihre drei Jungen genäht. Wegen der Ausmaße des Originals hatte ich mir den Besitzer immer als einen Riesen mit Dickwanst vorgestellt.
Ein einziges Mal, kurz nach dem Krieg, kam der Großvater zu Besuch. Ich traute meinen Augen nicht, als ich ihn sah: einen alten tattrigen Mann, der so dürr war, dass er fast in meine Kinderhose gepasst hätte. Wo hatte er bloß all die Pfunde gelassen, die er einmal in der gewaltigen Lederhose vom Dachboden untergebracht hatte? Trotzdem fürchtete ich, dass er in der Hose, in der ich ihn begrüßte, die Reste des Originals wiedererkennen würde. Aber nichts, kein zweiter Blick, kein Nachfragen. Er schenkte mir ein rotes Spielzeugcabrio,das vier Gänge hatte – und gewann damit mein Herz. Wenn er es verlangt hätte, hätte ich dieses Auto jederzeit für meine Lederhose eingetauscht.
In den Jahren danach meldete er sich nicht mehr. Das Haus, in dem seine Tochter mit seinen Enkeln die Nachkriegsjahre verbrachte, hinterließ er seinem Sohn in Ostberlin. Der hatte in den Dreißigerjahren ein Verfahren zur Gewinnung von Benzin aus Braunkohle erfunden und war den Nazis so unentbehrlich gewesen, wie später den Kommunisten in der DDR . Ohne je politisch engagiert zu sein, hatte er rechtzeitig das Parteibuch gewechselt und genoss die Privilegien eines tüchtigen Ingenieurs, der in jedem System, gleich welcher Prägung, gebraucht wird. Als der Erbfall eintrat, bewohnte er mit seiner Familie eine Villa in Dresden. Als Bürger der DDR konnte er mit seinem Erbe in Südbayern nicht viel anfangen und vermietete das Haus.
4
Lange bevor ich für dieses Buch zu recherchieren begann, habe ich auf einer Rückfahrt von Italien in Grainau Rast gemacht. Das Haus, in dem ich als Kind gelebt hatte, stand immer noch da, wie ich es kannte: die Holzwände auf einem Sockel aus gemauertem Stein, der Erker aus sechsteiligen Fenstern mit weiß gestrichenen Rahmen, darüber der vorspringende, über die ganze Stirnseite des Hauses reichende Balkon, der in einem weiten Bogen gegen das spitzgiebelige Dach abschloss. Von der gewaltigen doppelstämmigen Birke vor dem Haus, vor der fast alle Familienfotos geschossen worden sind, war nur ein Stumpf übrig.
Das Haus schien unbewohnt zu sein. Die Nachbarhäuser, die damals auch aus Holz gewesen waren, hoben sich mit frisch geweißten Zementwänden und mit neuen Ziegeldächern ab. In dieser Umgebung wirkte das Haus des Großvaters störend, wie ein Findling, ein dunkler, rätselhafter Felsbrocken, der in Urzeiten angeschwemmt worden war und auf dem Hügel Halt gefunden hatte. Die vom Regen und der Witterung fast schwarz gewordenen Holzwände verstärkten den Eindruck von Düsternis und Lichtmangel. Was hatte die Mutter eigentlich gemeint, als sie Andreas für einen seinerBesuche ein Sonnenbad auf ihrem Balkon versprach? Der Balkon auf der Vorderseite des Hauses lag in ewigem Schatten. Doch, jetzt erinnerte ich mich. An der Rückseite des Hauses hatte es einen zweiten Balkon vor ihrem Schlafzimmer gegeben, dessen Fenster nach Süden zeigten. Aber die hochgeschossenen Buchen und Tannen, die ich hinter dem Dach sah, ließen auch dort kaum einen Sonnenstrahl durch. Nur die Veranda über der Steintreppe lag an diesem Vormittag im Licht. Ich wusste, dass die Sonne in spätestens einer Stunde weiterziehen und das Haus bis zum Abend im Schatten lassen würde.
Weil die Gartentüre offen stand, ging ich die Treppe hinauf und klopfte an die Verandatür. Drinnen hörte ich Geräusche, eine Dame im Bademantel öffnete die Tür. Sie war stark geschminkt und sah mich eher neugierig als abweisend an. Als ich ihr sagte, dass ich in diesem Haus meine Kindheit verbracht hatte, bat sie mich hinein. Das Wohnzimmer war in eine Bar umgewandelt worden, zwei schläfrige Gäste, die mich mit »High« und »Nice to meet you« begrüßten, dösten im Pyjama auf Hockern vor ihren Sektgläsern. Eine andere Dame im Bademantel saß hinter der Bar und bot mir einen Drink an. Ich bestellte einen Malt-Whisky, trank ihn in einem Zug aus und verlangte einen neuen. »This guy is really thirsty«, sagte einer der beiden Gäste und schlug mir lachend auf die Schulter. Ich blickte in die Ecke, in der das Klavier des Vaters gestanden hatte – es war das einzige Klavier in Grainau gewesen. Dort stand jetztein
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