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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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über ihm hängenden Ast stieß, warf der Junge eine Münze in Richtung der Blechbüchse. Wenn es in der Büchse schepperte, so reimte ich mir die Regel dieses Spiels zusammen, hatte er gewonnen. Verfehlte er das Ziel, durfte die Schwester auf die Schaukel, und der Bruder musste die Büchse halten. Wer am Ende mehr Münzen hatte, war der Sieger.

5
    Das Dorf meiner Kindheit war erfüllt von Dämonen, bösen Märchen und unverständlichen, gewalttätigen Ritualen. Überall an den Hängen, aber auch unten auf den Wiesen, standen Heuschober – aus Rundhölzern gebaute Hütten, in denen die Bauern im Herbst das Heu für ihr Vieh einbrachten. Denen weiter oben, die an den steilen Hügeln klebten, durfte man sich nicht nähern. Es hieß, dort hausten immer noch versprengte Gebirgsjäger, die sich vor den amerikanischen Truppen versteckten. Sie lebten dort wie das Vieh, sie waren hungrig und gierig, und es war vorgekommen, dass sie einen vorwitzigen Jungen, der sich dort hinaufwagte, einfingen und nicht mehr nach Hause ließen. In einem Heustaderl hatte man ein nacktes Mädchen gefunden, dessen Brust von einem Holzpflock durchbohrt war. Aber auch unten im Zigeunerwald, in dem wir spielten, war es unheimlich. Fünfhundert Tote sollen dort nach dem Krieg gelegen haben. In den Höhlen unter den Felsen hockten nie gesehene, furchterregende Lebewesen.
    An Fasnacht drängten die bösen Geister, die sich das Jahr über in den Höhlen und in den Dachstühlen verborgen gehalten hatten, auf die Straßen. Mit Waschbrettern, Rasseln, Stampern, mit Löffelschlägen auf denTrummtopf zogen sie an den Gaffern vorbei, stießen hinter holzgeschnitzten Larven unheimliche Kehllaute und hohe Falsetttöne aus. Ein Junge aus der Nachbarschaft machte sich über mich lustig; er behauptete, er habe überhaupt keine Angst, denn er kenne jede Maske und ihren Besitzer. Aber wenn ich auf eine Maske zeigte, konnte er mir nicht sagen, wer dahinter steckte. Denn vor der Fasnacht tauschten die Besitzer ihre Larven aus, damit niemand sie daran erkennen konnte. Bevor sie die Masken aufsetzten, spuckten sie hinein, um sich nicht mit einer Krankheit anzustecken. Die Pfauenfeder auf dem Kopf schützte gegen Blitze.
    Am meisten fürchteten wir die Flecklegwander, die man an ihren aus tausend Flicken zusammengestückten Kostümen erkannte. Sie vollführten wilde, ungeheure Sprünge. Manchmal brach ein Flecklegwander aus dem Umzug aus, stürzte sich auf die Reihen der Gaffer und setzte einem Kind hinterher, das in wildem Zickzack davonstob. Aber es war unmöglich, den Flecklegwandern zu entkommen. Gleichgültig, wohin du gerannt bist, du hattest ihren Atem im Nacken, hörtest ihr Raunzen und ihr Spucken, das Gesabber und die Flüche, die sie aus ihren Holzmündern hervorstießen, du fühltest ihre Krallenfinger in deinen Haaren, bevor sie dich daran packten und dir den Kopf nach hinten rissen. Und wenn sie dich hatten, half kein Beten und kein Betteln. Sie warfen dich unter dem Gekreisch der anderen Kinder hoch in die Luft, sie ohrfeigten dich, legten dich übers Knie, schlugen dich windelweich, du wusstestnicht warum, aber du wusstest, dass du die Strafe verdient hattest.
    Wenn der Schnee auf den Wiesen wegtaute und die Kühe ihre Mäuler in die noch harte Erde stießen, gab es ein anderes Spektakel. Jedes Jahr machte sich ein junger Mann aus einem der Nachbarhäuser auf, um die Südwand des Kleinen Waxensteins, die noch nie erstiegen worden war, zu bezwingen. Die Anwohner kannten seinen Spleen vom letzten oder vorletzten Frühjahr, sie wussten, wie das Abenteuer enden würde. Aber sie stellten sich ihm nicht in den Weg. Stumm sahen sie zu, wie er sich von der Frau, die sich an ihm festklammerte, losriss, von der Mutter, die ihm aus ihrem anschwellenden Halskropf Liebesworte und Flüche hinterherschrie, und traten respektvoll zur Seite, wenn er, ohne sich noch einmal umzudrehen, der Wand entgegenging. Danach zerstreuten sie sich und gingen mit gesenkten Köpfen ihrer Wege.
    Stunden später, wenn er die Geröllschlucht erreicht hatte, fanden sie sich alle wieder an derselben Stelle ein. Manche hatten Ferngläser an den Augen und berichteten den Umstehenden in kurzen Ausrufen, die wie Geröllschlag klangen, was sie sahen. Atemlos folgte ich den Zeigefingern und Meldungen der Erwachsenen über den Verlauf des Aufstiegs und bildete mir ein, dass ich den Verrückten jetzt an einer winzigen Bewegung in der tausend Meter hohen grauen Wand entdeckt hatte. Ich sah ihn wie

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