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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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Tilla. Sobald die Mutter aus dem Haus war, kam Willi.
    Er nahm mich mit auf Wanderungen, die meiner Prüfung dienten. Den Namen der Schlucht, zu der wir aufbrachen, hatte ich ein paar Mal gehört: Höllentalklamm. Die Klamm sei ein Kampfort, auf dem der Erzengel seine Kräfte mit dem Teufel messe, sagte Willi.
    Der Weg war steil und führte zu Felswänden, die in beängstigende Höhen stiegen. Ich musste den Kopf in den Nacken werfen, um über den Spitzen der Alpen, deren schneebedeckte Gipfel auch im August weiß aufglänzten, ein Stück Himmel zu sehen. In der Schlucht, erzählte Willi, hatten Bauernbuben, kaum älter als ich, vor vielen Jahren dicht über dem reißenden Sturzbach ein seltenes Erz abgebaut und tiefe Gänge in den Fels gesprengt. Dutzende von ihnen seien dabei umgekommen.
    Wir liefen durch ein Dickicht von klein gewachsenen Buchen und Krüppeleichen, das so dicht war, dass die Sonne darin keine Lücke fand. Von ferne hörte ich das mächtige Rauschen eines Flusses, den ich manchmal, tief unter uns, zu Tal stürzen sah; das zwischen den Felsbrocken aufspritzende Wasser war weiß wie Milch. Immer wieder musste ich stehen bleiben, um zu Atem zu kommen, aber Willi duldete keine Pause, er trieb mich aufwärts. Das hier sei gar nichts, sagte er, das Schlimmste komme noch. Je näher wir den Steilwänden kamen, desto dunkler und kälter wurde es, jäh schiendie Temperatur um zehn Grad abzufallen. Das Tosen der Wassermassen war so laut, dass wir uns nur noch brüllend verständigen konnten. Die Felswände links und rechts der Gischt standen nah; ich hätte zur gegenüberliegenden Wand springen können, wenn es dort einen Halt gegeben hätte. Aus den Ritzen der überhängenden Felsen wuchsen ein paar Sträucher und kahle Bäumchen – viel zu dürr, um sich an ihnen festzuhalten.
    Ich solle lieber nicht zurückschauen, wenn ich nicht schwindelfrei sei, sagte Willi. Mir wurde schon beim Hinaufschauen an den Felswänden schwindlig. Ja, der Name stimmte, dies war ein Tor zur Hölle. Wir stiegen auf einem nassen Felsboden hinan, der so weiß war wie das schäumende Wasser unter uns, tasteten uns durch Felstunnel voran, indem wir uns an den Drahtseilen entlang der Wände festhielten, wobei es uns ständig eiskalt auf den Kopf und in den Nacken tropfte. Willi musste den Kopf einziehen, um nicht an die Decke zu stoßen. Vielleicht entschied er sich deswegen für die in den Fels gesprengten Durchlässe und lief auf den Holzstegen an der Außenwand entlang. Ich zog es vor, in den Tunneln zu bleiben, immer in Angst, dass ich Willi verlieren und mich verirren würde. Willi hatte mich gewarnt: Diejenigen, die vom Glauben abfielen, würden aus dem Tunnellabyrinth nie mehr herausfinden und darin in alle Ewigkeit auf- und abwärts irren.
    Ich hatte mir die Hölle bisher als einen glühend heißenAbgrund in großer Tiefe vorgestellt, nahe dem Erdinnern – keinesfalls als einen Ort in dieser Höhe, der die Finger klamm machte und die Zähne klappern ließ. Willi erklärte mir, der Teufel sei überall, auch in fünfzehnhundert Metern Höhe würden sich Eingänge zur Hölle finden. So entschied ich mich, ihm lieber auf dem Holzsteg zu folgen, unter dem der Höllenfluss tobte. Unter dem Geländer des Stegs waren zur Absicherung Drähte angebracht. Aber ein Kind, das auf dem nassen Boden ausglitt, würde unweigerlich unter dem unteren Draht hindurchrutschen, hinein in die Wassermassen, und mit dem Kopf an die Felswände schlagen.
    Willi packte mich am Arm und blieb stehen. Er zeigte mir einen gewaltigen Brocken hoch über unseren Köpfen, der sich zwischen den Wänden verkeilt hatte. Dutzende von Neugierigen, sagte Willi, würden jeden Tag unter dem tonnenschweren Felsblock stehen bleiben und auf ihn zeigen – im Vertrauen darauf, dass er sich nie aus seiner Verkeilung lösen könne. Bisher seien diese Ahnungslosen immer, ohne es zu wissen, vom Erzengel Michael beschützt worden. Es würde nur eines Kommandos des Teufels und einer sekundenlangen Unaufmerksamkeit des Engels bedürfen, und der Fels würde auf uns niederstürzen.
    Je höher wir kamen, desto öfter veränderte der Fels seine Farbe, mitten im harten Grau zeigten sich rötliche Flecken, die in der Sonne wie blutende Wunden aussahen.Die Wände wichen zurück, und das Getöse der Wasserstürze, die eben noch aus jeder Felsspalte herausgebrochen waren, wurde leiser. Als sich die Klamm öffnete und flacher wurde, sah ich die schimmernden Gipfel der Alpspitze und des

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