Die Lieben meiner Mutter
verabschiedete, nie sagte er ein Liebesgedicht auf. Offenbar war Hanna durch dieselbe Kraft an Willi gebunden wie ich selber: durch den Glauben an die Macht des Erzengels Michael und durch die Angst vor Höllenstrafen.
7
Die Geräusche von Alarmsirenen und Tieffliegern gehören zu meinen frühesten Erinnerungen. Es waren die weitaus stärksten Signale aus der Außenwelt. Wie Lesezeichen stecken sie in meinem Gedächtnis und ordnen die Bilder und Ereignisse aus den Jahren unserer Flucht. Aussteigen! hieß es, wenn die Züge plötzlich auf offener Strecke hielten, aussteigen und rennen bis zum nächsten Wald! Auf keinen Fall weiterrennen, wenn die Bomber über dir sind. Dann wirfst du dich auf den Boden und verschränkst die Arme über dem Kopf! – Hilflose Verhaltensregeln von Erwachsenen, die sich bei einem Tieffliegerangriff selber nicht zu helfen wussten. Immerhin kamen sie der kindlichen Illusion entgegen, dass man unsichtbar wird, wenn man sich die Augen zuhält.
Tatsächlich schloss ich die Augen, wenn ich mich im offenen Feld auf den Boden warf, und hielt mir die Ohren zu. Und wenn du dann das Krachen eines Einschlags hörst, hatte jemand im Abteil gesagt, weißt du, dass du überlebt hast. Ich verstand nicht, was es über diesen Satz zu lachen gab.
Nach dem Einschlag den Kopf heben, zum Himmel schauen und herausfinden, ob die Flieger wenden. Wennsie weiterfliegen, aufstehen und Richtung Wald oder Gebüsch rennen!
In einer der Städte, in denen wir auf unserer Flucht nach Süden haltmachten, ich glaube, es war Bayreuth, wurden wir auf der Straße vom Geheul der Alarmsirenen überrascht. Ich weiß nicht mehr, wie und warum wir mit hundert oder tausend anderen Flüchtlingen in einem riesigen offenen Raum unter freiem Himmel Schutz suchten – war es ein Sportplatz, ein Stadion? Nein, es muss anders gewesen sein: Mein Kindergedächtnis muss das dramatische Ende des Ereignisses an den Anfang gesetzt haben. Wahrscheinlich saßen wir auf diesen Stufen, weil wir irgendeiner Vorstellung oder Darbietung auf dem Sportplatz beiwohnten, und sind dann von einem Angriff überrascht worden. Jedenfalls boten wir, wie wir uns auf den Stufen zusammenduckten, ein ideales Ziel. Als sich die erste Bomberstaffel näherte, nahm die Mutter mich auf ihren Schoß und legte ihre Arme über mich – ich weiß nicht, wo meine Geschwister in diesem Augenblick waren. Als die Flieger direkt über uns waren, flüsterte sie mir ins Ohr, nein, sie muss mir ins Ohr geschrien haben, schlaf’ ein, schlafe, jetzt, auf der Stelle. Und weil ich in ihrem Schoß lag und so nah bei ihr war, schlief ich ein. Jedenfalls erzählte sie das später, in der Wohnung der Tante, mit einem Aufblitzen von Stolz in den Augen. Aber vielleicht erinnere ich mich an diesen Vorfall nur, weil sie mir davon erzählte, und weil es eine schöne Erinnerung war.
Einmal,nach dem Aussteigen aus einem auf offener Strecke haltenden Zug, verlor ich den Anschluss an meine Geschwister und die Mutter, die mit Paul auf dem Arm vorausgelaufen war. Dicht über mir das Dröhnen eines Tieffliegers, dann der grelle Blitz und das Krachen einer Bombe. Baumsplitter, Steine, Erdreich spritzten himmelwärts – mitten in dieser Wolke mussten Paul und die Mutter sein. Jedenfalls sah ich sie nicht mehr auf dem Weg vor mir, auch nicht, als alles, was eben in die Luft geflogen war, sich in kleinen Teilen zu Boden senkte. Nachdem Staub und Rauch verflogen waren, konnte ich dort, wo die Mutter eben noch gelaufen war, einen Krater erkennen; am Rand die Umrisse von Menschen, die die falschen Koffer, die falschen Frisuren, die falschen Mäntel trugen – Menschen, die ich nicht kannte. Jetzt war es passiert – und natürlich wussten meine Geschwister und ich, dass es immer und jederzeit passieren konnte. Dennoch war, was geschehen war, vollkommen unvorstellbar: Die Mutter war mit Paul und mit allem, worauf sie eben noch gestanden hatte, in einer schmutzigen Wolke himmelwärts geflogen. Ich bin allein, wir sind allein, wo sind die anderen Geschwister.
Aber wie konnte es sein, dass ich ihre Stimme hörte, von weit her, nein, aus der Nähe – ich blickte nach vorn, nach links und rechts, ich blickte in den Himmel. Dann entdeckte ich sie unter einem Baum. Sie winkte mir zu, und ich lief zu ihr hin, so schnell, wie ich noch nie gelaufen war.
Du hast, erklärte sie mir, als sie mich hochnahm, die Entfernungfalsch geschätzt. Die Bombe sei ja dreißig Meter vor ihr explodiert. Ich verstand nur, dass
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