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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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Kleinen Waxensteins. Felstrümmer in allen Größen, die vor Urzeiten herabgerollt waren, lagen träge in dem nun flacheren Flussbett und zwangen das Wasser zu Umwegen. Auf einem der sonnenbeschienenen Bruchstücke machten wir Rast. Von hier aus, sagte Willi, könne man zur Alpspitze und auch zur Zugspitze wandern. Und wirklich entdeckte ich am Fuß der senkrechten Wand, die vor uns wohl tausend Meter in die Höhe stieg, ein paar dunkle Punkte, die sich bewegten, eine Kolonne von Bergsteigern, die sich wie Ziegen auf einem nicht erkennbaren Pfad an den Aufstieg machten. Es schauderte mich. Warum nahmen diese Leute solche Anstrengungen auf sich, welcher Ehrgeiz trieb sie, diese Wände zu ersteigen und sich nicht anmerken zu lassen, dass ihnen längst der Atem fehlte? Warum setzten sie ihr Leben aufs Spiel, obwohl niemand sie dazu zwang? Offenbar taten sie alle heimlich Buße für Verbrechen, von denen nur der Erzengel Michael und sie selber wussten.
    Hoch über ihnen, am oberen Rand der Steilwand, sah ich ein paar schwarze Vögel, die ohne einen Flügelschlag zu tun an der gezackten Kante entlangsegelten. Zu denen würde ich gehören, wusste ich, wenn ich das Fliegen erlernt hätte. Ich würde die Arme ausbreitenund mich vom obersten Absatz der Felswand in den Abgrund werfen in der Gewissheit, dass ich nie aufschlagen würde.

6
    Erst spät entdeckte ich, dass auch meine Schwester Hanna mit Willi ein Geheimnis teilte. Vielleicht war sie Willi sogar vor mir begegnet. Mit keinem Wort verriet er mir, dass Hanna und ich, ohne es zu wissen, längst Komplizen waren. Da wir uns beide strikt an sein Schweigegebot hielten, hatten wir wohl eine ganze Weile, jeder für sich, zu Hause für den Erzengel Michael Vorräte auf die Seite gebracht. Auf keinen Fall hätte ich mich Hanna anvertraut, denn ich war sicher, dass sie mir den Umgang mit Willi sofort verbieten würde. Nächst der Mutter war sie für mich die wichtigste Autorität in der Familie. Auf der langen Flucht, wenn wir nach einem Alarm aus einem auf offener Strecke haltenden Zug aussteigen und im nächsten Wald Schutz suchen mussten, hatte Hanna mich an der Hand genommen, während die Mutter mit Paul auf dem Arm und dem großen Bruder vorauslief.
    Dass meine Schwester Willi kannte, dass sie ihm gehorchte, merkte ich erst, als ich mit ihr den Garten vor unserem Haus sprengte. Willi stand am Gartentor und sah uns zu. Hanna bat ihn herein. Willi nahm ihr den Schlauch aus den Händen, ließ das Ende in der Luft kreisenund schickte Kaskaden von Wassertropfen über unsere Köpfe, die im Sonnenlicht aufblitzten.
    Lauft, rief er, während er uns in einen Wirbel von glitzernden Wasserschleifen einschloss, rennt, so schnell ihr könnt! Seht ihr nicht, dass in jedem dieser Spritzer ein Teufelchen sitzt, das nach euch grapscht? Jeder Tropfen, der euch berührt, wird eine Brandwunde, die nie mehr heilt!
    Im Zickzack stoben Hanna und ich, gejagt von Willis Wassergarben, durch den Garten und retteten uns in die Veranda. Willi drehte den Hahn zu, schwang den Schlauch, der jetzt nur noch ein paar Spritzer hergab, wie ein Lasso über dem Kopf, warf ihn dann auf den Boden und lachte. Hanna lachte zurück, aber ich konnte sehen, dass sie ebenso viel Angst hatte wie ich. In Panik fuhr sie sich mit den Händen an den Kopf und strich sich ein paar Tropfen vom Hals und aus dem feuerroten Haar. Hastig wischten wir uns gegenseitig die Arme und die Beine trocken.
    Von da an wusste ich, dass auch Hanna den Pakt mit Willi und dem Erzengel Michael geschlossen hatte.
    Wie hatte er Macht über meine Schwester gewonnen? Wollte sie auch das Fliegen erlernen oder hatte er ihr ganz andere Versprechungen gemacht? Fürchtete sie genau wie ich die Höllenstrafen, die im Falle des Verrats auf sie warteten, oder gab es eine besondere Vereinbarung zwischen Willi und ihr? Meine Schwester war frech, aufmüpfig, widerspenstig, das einzige von uns Kindern, das sich der Mutter offen widersetzte. Ein Schulfreundbehauptete, meine Schwester sei verliebt in Willi. Einmal habe er gesehen, wie die beiden sich geküsst hätten. Aber als ich ihn fragte, wann und wo, wurde seine Antwort schwammig. Eine Zeit lang spionierte ich hinter den beiden her und beobachtete sie. Aus meinen Ritterbüchern wusste ich, wie sich Verliebte benehmen, und kam zu dem Schluss, dass Liebe bei ihnen nicht im Spiel war. Nie trug Willi den Schulranzen meiner Schwester, nie sank er vor ihr am Gartentor aufs Knie, wenn er sich von ihr

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