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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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die wie der Einfall eines klischeeverdächtigen Drehbuchautors wirkt:
    Nach 30stündiger Fahrt und 6maligem Alarm kamen wir in B. an und fanden kein Quartier, das versprochene war inzwischen besetzt. 3 Tage hausten wir in einer leeren Dachkammer mit 2 Betten – zu fünft, die N. S. V. (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) schickte mich auf die Dörfer, ich klapperte mit den vier Kindern ein halbes Dutzend Dörfer ab – kein Quartier zu haben! Dann schickte mich die N. S. V., die es als ihre einzige Aufgabe betrachtet, die Leute wieder abzuschieben – mit der festen Aussicht auf Quartier nach Wunsiedel. Nach 7stündiger Fahrt und mit leeren Mägen kamen wir um 11 Uhr nachts dort an, kein Mensch ließ uns rein, keiner erwartete uns, wollte uns aufnehmen. In einer Schule öffnete nach einstündigem Klingeln widerwillig der Direktor. Nachdem man uns dort für Wochen nur Massenquartier in Aussicht stellte, löste ich mich wütend von dem Transport, fuhr nach Bayreuth zurück nach 12stündiger Fahrt!, wandte mich an Winifred Wagner und wohne zur Zeit durch ihre Vermittlung für 8 Tage im Festspielhaus oben. Für die Kinder paradiesisch. Aber Montag setzt man uns wieder raus, da die Räume fürs Rote Kreuz belegt werden. Was dann wird, ist mir schleierhaft.
    Wiederder Schock und das Innehalten. Winifred Wagner, NSDAP -Mitglied seit 1926, war nach dem Tod ihres Mannes Siegfried Wagner die Leiterin der Festspiele in Bayreuth bis 1944. Im Tagebuch von Joseph Goebbels heißt es: »Ein rassiges Weib. So sollten sie alle sein. Und fanatisch auf unserer Seite.«
    Offenbar hat die Mutter diese Dame persönlich gekannt. Oder sie konnte sich im Namen ihres Mannes oder ihres Geliebten Andreas auf die Nähe der Familie zum Festspielhaus berufen.
    Aber was werfe ich der Mutter vor? Würde ich mich heute wohler fühlen, wenn wir nicht bei Winifred Wagner Unterschlupf gefunden hätten? Die Mutter hat sich nach tagelanger vergeblicher Suche nach einer Unterkunft an die nächstliegende Adresse gewendet, von der sie Hilfe erwarten konnte. Welche Mutter mit vier ausgehungerten Kindern hätte es ihr nicht gleichgetan? Sollten wir, die wir uns alle eines bedeutend längeren Lebens erfreuen als die Mutter, ihr für diesen Einfall in der Not nicht danken? Schließlich ist es uns auf dem berühmten Hügel acht Tage lang gut gegangen, wir haben die »paradiesischen Zustände« genossen!
    Und doch! Andere Mütter, die Winifred Wagner nicht kannten, mussten damals weiter von einem Dorf zum anderen irren. Und einige von ihnen hätten sich, auch wenn sie Winifred Wagner aus früheren Zeiten kannten, nicht mehr an sie wenden können, weil sie sich inzwischen auf die andere Seite geschlagen hatten.
    Wennich den Fluchtbewegungen der Mutter folge, wird deutlich, dass sie ihre Kinderschar mit schlafwandlerischer Sicherheit an den jeweils nächsten Zielen der Bomberflotte von General Harris vorbeigeführt hat, der die deutsche Zivilbevölkerung großflächig bombardierte in der Absicht, jenen Rest, der bei dieser »erzieherischen Maßnahme« nicht verbrannte, zum Aufstand gegen Hitler zu bewegen. Hat die Mutter, die über keine zuverlässigen Nachrichten verfügte und nur ihrem praktischen Sinn und ihrem Instinkt folgte, die Gefahrenzonen vorausgeahnt? Oder hat sie, haben wir ganz einfach Glück gehabt? Zwar glaubte sie durchaus an eine göttliche Kraft, aber nicht an eine Vorsehung und schon gar nicht an einen persönlichen Gott, der die Haare auf ihrem Kopf gezählt hätte. Meinst du nicht , fragt sie den Vater, der zu dieser Zeit als Funker in Wien stationiert ist, wenn wir umkommen sollen, kommt es so oder so? Ein Entrinnen vor unserem Geschick gibt’s nicht mehr.
    Wie alle, die damals auf der Flucht sind, überlegt sie, wo sie am ehesten vor den Bombenangriffen sicher ist. Jedenfalls eher auf dem Land als in den großen Städten. Denn in den Städten ist ständig Alarm – Alarm über Dresden, Riesa, Oschatz, meldet sie ihrem Mann. Vielleicht sollte sie sich doch nach Grainau, ins Wochenendhaus ihres Vaters, durchschlagen, in die Nähe der Lazarett-Stadt Garmisch, denn Lazarettstädte, weiß sie, werden nicht bombardiert. Aber offenbar hat ihr Vater auf ihr wiederholtes Fragen hinhaltend, wenn nicht sogar abschlägig reagiert. Seine beiden Briefe, die sie in ihrer Empörung an Heinrich weiterschickt, sind nicht erhalten.Aber aus den Wutausbrüchen gegen ihren Vater lässt sich schließen, dass ihm das Wohl der Mieter in seinem Haus – und die

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