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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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sie am Leben war. Aber mein Glaube daran, dass die Mutter trotz allem, was so vielen anderen passierte, unverletzbar war, war dahin.
    In den Büchern über die letzten Kriegsjahre lese ich von den Bunkern, in denen Millionen von Zivilisten in den Städten vor den Spreng- und Brandbomben Zuflucht suchten. Von Müttern und Kindern, die als lichterloh brennende Fackeln durch die Straßen taumelten oder in den Kellern und Bunkern erstickten – wegen des Sogs der Flächenbrände, die der Luft den Sauerstoff entzogen. Auch wir sind, so erfahre ich aus den Briefen der Mutter, einige Male in Keller und Bunker geflüchtet, obwohl sie von solchen Unterkünften nicht viel hielt. Wenn es passiert, dann passiert es eben, dies war ihre Haltung.
    Noch am 17. Januar 1945, kaum einen Monat vor dem alliierten Großangriff, schreibt sie aus Dresden ihrem Mann: Die mittlere Ostfront ist seit gestern offenbar zusammengebrochen, und – du wirst lachen – Bomben auf Dresden! Hielt sie sich mit diesem munteren Spruch das Wissen vom Leibe, dass es jeden Tag mit ihr und ihren Kindern aus sein konnte, wie es am 13. und 14. Februar 25.000 Zivilisten in Dresden geschah? Vielleicht war es eine Gnade, dass es damals nur Gerüchte gab, keine Nachrichten – wer im Zentrum der Katastrophe lebt, hat keinen Überblick.
    Wirwaren gar nicht im Keller. Nur als die Türen bald rausflogen, gingen wir mal runter. Gestern Nachmittag fuhr keine Straßenbahn. Heute früh kam weder Zeitung noch Post – was unangenehmer ist.
    Das Glück wird oft beschrieben als der Augenblick, in dem jeder Gedanke an die Vergangenheit oder Zukunft abgeschaltet ist. Diese Beschreibung trifft ebenso auf die Momente des Schreckens zu, von denen man nicht weiß, ob man sie überlebt.
    Meine Erinnerung an die Aufenthalte in den Kellern und Bunkern ist vollständig ausgelöscht. Haben sie deswegen keine Spuren hinterlassen? Sind Erlebnisse, an die man sich nicht erinnern kann, keine Erlebnisse? Sind sie Teil der Biografie und des Charakters oder kann man sie, weil sie vergessen sind, vergessen – und als nicht geschehen betrachten?
    Angst ließ die Mutter nicht zu, und weil sie keine Angst zeigte, hatten wir auch keine. Wir gewöhnten uns an die Sirenen und das an- und abschwellende Donnern der Tiefflieger – es waren Alltagsgeräusche, die ein eingespieltes Verhalten in Gang setzten. Nicht ohne Stolz berichtet die Mutter in ihren Briefen an beide, an den Vater und an Andreas, von der Plackerei des Reisens mit ihrer Kinderschar von einem Ort zum anderen; vom Schleppen der Gepäckstücke vom Bahnhof zur vorläufigen Unterkunft; vom nervenzehrenden Beisammensein auf engstem Raum mit den Verwandten oder der Schwiegermutter, die immer noch an den Endsiegglaubte. Dies und die Frage, ob es sich lohne, zwei Zimmer zu heizen statt eines, bedrängen sie mehr als das tägliche Aufheulen der Sirenen. Naiv, ja vorsätzlich leichtsinnig klingt ihre Reaktion auf die Warnungen durch die Aufklärer der deutschen Luftwaffe über Dresden.
    Gestern hat’s ganz schön gekracht hier. Und es ist einiges gefallen, einige Straßen am Hauptbahnhof, sonst wohl einzelne Häuser in allen Gegenden. Unter anderen hat das Friedrichstädter Krankenhaus was abbekommen. Na, ich gehe ins andere .
    Für die Mutter zählen nur die Zerstörungen in Sichtweite und die Tatsache, dass man sie überlebt hatte.
    Als dann jeden Tag zweimal Vollalarm ist, überlegt sie, ob sie die eben erst bezogene Wohnung in Dresden nicht doch lieber aufgeben soll. Aber werden dann nicht die ausgebombten Rheinländer den Leerstand sofort melden? Dann hat man fremde Leute in der Wohnung! Und die werden die Kartoffeln aufessen, die sie eben erst in die Wohnung geschleppt hat. Überhaupt das Kartoffelnschleppen. Immer wieder kreisen ihre Gedanken um die Frage, in welcher Unterkunft sie bei den zahllosen Ortswechseln wenigstens einen Zentnersack Kartoffeln deponieren soll – Kartoffeln, das wichtigste Überlebensmittel.
    Im Winter des letzten Kriegsjahres ist sie mit uns immer noch auf der Flucht. Monatelang irrt sie mit den vier Kindern in überfüllten Zügen zwischen Bayreuth, Oschatz, Dresden und Radebeul hin und her – zwischenWohnungen, in denen sie mit uns jeweils für ein paar Tage oder Wochen bei Verwandten unterkommt. Bei diesem Hin und Her, so erfahre ich aus den Briefen, sind wir für ein paar Tage in Bayreuth gelandet. Die Szene im Stadion, an die ich mich erinnere, wird von der Mutter nicht erwähnt, wohl aber eine andere,

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