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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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Miete! – offenbar wichtiger war als das Schicksal seiner Tochter und Enkelkinder.
    Er bekommt noch eine Antwort, aber erst, wenn ich weiß, daß er mir nicht mehr schaden kann. So ein Schwein als Vater zu haben, in solcher Zeit!
    Auf den Bahnhöfen herrschen katastrophale Zustände. Überall halb verhungerte Flüchtlinge, die nach wochenlangen Reisen und Fußmärschen aus dem Osten irgendwohin wollen, Hauptsache nach Westen. Sie verstopfen die Bahnsteige und stürmen die Züge, bevor eine Mutter mit einem Kind auf dem Arm, einem zweiten an der Hand und zweien vor oder hinter sich einen Fuß auf das Trittbrett setzen kann. Ganz zu schweigen vom Gepäck! Wie vielen Zügen, auf die sie gewartet hat, hat sie nachgeschaut, weil sie sich gegen andere Familien mit größeren Kindern nicht durchsetzen konnte? Falls sie mit ihrem Anhang die nächste Stadt erreicht, sind andere, kaum lösbare Probleme zu bewältigen: Wie das Gepäck vom Bahnhof zur Unterkunft befördern, wie möglichst noch am gleichen Tag Kartoffeln und ein paar Näharbeiten auftreiben, um mit dem schmalen Entgelt in Naturalien einen kleinen Vorrat für die nächsten Tage anzulegen? Mit welchem Holz die Zimmer, genauer das eine Zimmer, heizen, denn für die Beheizung von zwei Zimmern fehlt die Kohle. Und dazu noch das diebische Kindermädchen! Soll sie es bei der Stange halten oder morgen zum Arbeitsamtgehen, um sich ein neues zuweisen zu lassen? Welcher Aufwand ist geringer? Denn auf ein Kindermädchen, selbst auf ein diebisches, ist sie dringend angewiesen, weil Blutungen und Unterleibsbeschwerden sie in die nächstbeste Klinik treiben. Bei ihrem letzten Klinikaufenthalt hat man Polypen an ihrer Gebärmutter gefunden. Und die Ärzte haben sie im Unklaren darüber gelassen, wie gefährlich der Befund ist.
    Aber all diese Dramen beschreiben nicht die größte Not der Mutter. Fast taub, mit vorsätzlicher Unempfindlichkeit geht sie mit ihren Kindern vorbei an den Trümmern und Bombenkratern, vorbei an den Lastwagen mit verbrannten und verwesenden Leichen, vorbei an den Toten und den Schwerverletzten. Der Stachel, den sie im Herzen trägt, der an ihrem Lebenswillen zehrt und sie fast umbringt, hat nichts mit dem Krieg zu tun.

8
    Im Dezember 1944 hat sie Andreas noch einmal in Berlin gesehen. Bei einem jener knapp bemessenen Treffen, die er in seinem Terminplan unterbringen kann. Wie immer, wenn er sie ruft, hat sie doch noch einen Zug gefunden und die Kinder untergebracht, diesmal bei ihrer Schwiegermutter, die die Ausflüge und Krankheiten ihrer Schwiegertochter misstrauisch beobachtet. Mehrmals kommt sie in ihren Briefen auf dieses Treffen zurück, umkreist und zerlegt es, als wollte sie es mit ihren Sätzen zu einem anderen Ende zwingen.
    Ich versuche, dieses Treffen zu rekonstruieren. Ihr Zug kommt offenbar mit Verspätung in Berlin an, und Andreas, der auch in Kriegszeiten jede freie Stunde sorgfältig plant, hat ungeduldig, allzu ungeduldig, in dem verabredeten Hotel auf sie gewartet. Sie merkt, sie kann sich ihm nicht öffnen, jedenfalls nicht gleich. Andreas ist nervös, er blickt, kaum hat er sie in die Arme geschlossen, auf die Uhr. Vielleicht hat er am Abend noch eine andere Verabredung, vielleicht wartet seine Frau auf ihn. Schmerzlich wird seiner Geliebten die Teilung seiner Zeit, seines Gefühls, seines Wesens bewusst – wie klein eigentlich der Bereich seines Lebensist, der sich mit ihrem Leben berührt. Schon immer hat sie das Gefühl gehabt, dass er sich mehr Zeit für sie nehmen müsste, zumindest einmal einen ganzen Tag, statt ein paar schon von Müdigkeit zerfressene Stunden inmitten anderer Verpflichtungen. Sie empfindet den ihr zugemessenen Zeitraum als zu klein, sie spürt eine Rangordnung in dieser Zeiteinteilung, die sie schmerzt, die sie nicht akzeptieren kann. Hat sie nicht Stunden und Tage vor dieser Begegnung mit sehnsüchtigem Warten verbracht? Und als sie ihn endlich erreicht, schaut er auf die Uhr? Wie soll, wie kann sie all die schweren Gefühle einfach überspringen, die sie auf dem Weg zu ihm bestürmt haben. Gleichzeitig sagt ihr die Erfahrung, dass sie den Anspruch auf mehr Zeit nicht an ihn stellen darf, aber immerhin will sie ihm sagen, dass eine Natur wie die ihre sich ihm ganz anders öffnen würde, und er sie ganz anders ausschöpfen könnte, hätte er mehr Zeit für sie! Und diesmal sagt sie es: Siehst du, wenn du dann wirklich da bist, stehe ich nicht so frei und sicher vor dir, wie ich möchte. Und damit fehlt

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