Die Lieben meiner Mutter
gut durch, nur die Pfotenhauer war so voller Trümmer und Trichter, daß ich das Rad teilweise tragen mußte. Ich sah während der langen Fahrt ab Feldschlößchen kein ganzes Haus mehr. Es ist unwahrscheinlich, die Kliniken völlig weg – Zwinger, Oper, ital. Dörfchen – alles alles ausgebrannt. Dresden ist über Nacht zur Frontstadt geworden. LKWs, flüchtende Menschen, alle zu Fuß – Soldaten, Soldaten,Verwundete, alles auf den Landstraßen. Du kannst dir’s nicht vorstellen. Ich suchte, fand nichts und niemand in der Frauenklinik außer einigen toten Soldaten, die herumlagen, doch endlich ging ich durch die Gärten durch und fand tatsächlich Fischer – total verdreckt, total ausgebombt, aber noch immer lächelnd. Ich gab ihm Wohnungsschlüssel. Wenn die Russen kommen, soll er wenigstens hier noch (gemeint ist die Wohnung in Radebeul) die Vorräte auffuttern, und gab ihm die Gößnitzer und Grainauer Adresse .
Sie fragt den endlich gefundenen, tief erschütterten Professor, den von ihr ernannten Retter, was sie machen soll. Weg, murmelt er, nichts wie weg!
Ach, du ahnst es ja nicht, schreibt sie ihrem Heinrich, wie es hier aussieht. Krieg – Elend – Hunger – wir kommen wohl alle noch um, wenn das nicht sehr bald zu Ende ist. Dabei blut’ ich wie ein Schwein. Hab aber die Tour nach Dresden gut geschafft heut, nur das Rad hat ein Loch. Herr Wendt will’s mir noch flicken. Könntest du nur bei uns sein, daß wir alle zusammen zugrunde gehen! Hab so Angst, daß noch Gas oder so was kommt. So schlimm wie Dresden geht’s keiner Stadt! Ich sah, wie man auf einen Lastwagen die verkohlten Leichen schaufelte. Hanna erkannte es gottlob nicht. Grausig. Es muß doch bald ein Ende haben. Ach, mein Heinrich, ich brauche viel, viel Mut, Gott schenke ihn mir und helfe mir. Es wäre alles anders, wenn du da wärst. Schon die paar Minuten bei Fischer ermutigten mich. Ich hab in Dresden mit meiner Babi toll gefressen, wir sind an die Vorräte gegangen das 1. Mal, wir Kamele. Hanna ist eine himmlische Person mit ihrem Frohmut, ihrem Lächeln, ihren Grübchen. Und wenn ich den Kopf voll habe, ist sie still und hilftmir, wie sie kann, und erzählt so süß die Geschichten wieder, die sie liest, und ihr ganzer Zauber ist erst spürbar, wenn man sie allein hat.
Sie ist fest entschlossen, sich mit den Kindern in den großen Flüchtlingsstrom Richtung Süden einzureihen. Bevor sie aufbricht, schreibt sie dem Professor noch, wo der Schlüssel zum Keller der aufgegebenen Wohnung in Radebeul liegt und wo der Koffer mit Mehl, die zurückgelassenen Einweckgläser und drei Zentner Kartoffeln zu finden sind.
Zunächst soll es nach Oschatz gehen, zur Wohnung ihrer schwierigen Schwiegermutter, bei der ihre drei anderen Kinder untergebracht sind. Sie verfügt über zwei Fahrräder. Eines belädt sie mit fünfzig Pfund Gepäck, den Rücksitz des anderen lässt sie frei. Mit dem unbeladenen Fahrrad begibt sie sich mit ihrer Tochter auf die Landstraße, spricht einen Soldaten an, der zu Fuß in dieselbe Richtung will. Sie beredet ihn, ihr zu folgen, sich das zweite Fahrrad zu nehmen und mit dem Kind auf dem Rücksitz vorauszufahren. Sie selber radelt mit dem Gepäckrad den beiden hinterher. Sie bewegen sich in einem kilometerlangen Tross von Treckern, Pferdekarren und Handkarren. Wenn Autos sie überholen, werden sie mit Schlamm bespritzt und von der Straße abgedrängt. Die Schlammspritzer machen ihr nichts aus; sie hat ihre Tage und fürchtet, dass ihr Blut durch die Windeln in das Kleid gesickert ist und dort den runden dunklen Fleck hinterlassen hat, mit dem viele Frauen auf der Flucht geschlagen sind. LieberSchlamm am Hintern als Blut.
Inzwischen ist es dunkel geworden und die Luft in ihrem Hinterrad ist raus. Als sie an einer Straßenkreuzung den Reifen aufpumpt, hält ein PKW . Der Fahrer, ein Offizier, bietet ihr an, sie ein Stück mitzunehmen. Zuerst ist sie von ihrem Glück überwältigt und will das Gepäck umladen, aber wo ist Hanna? Der Soldat ist mit ihrer Tochter auf dem Rücksitz in der Dunkelheit verschwunden. Sie lässt den Kavalier mit seinem Auto stehen und rennt ihrer Tochter, aus Leibeskräften ihren Namen rufend, in die Richtung hinterher, in der sie sie zuletzt gesehen hat. Endlich unterscheidet sie in dem Gewirr der Geräusche die vertraute Kinderstimme. Hanna hat gemerkt, dass ihr die Mutter nicht mehr gefolgt ist, und den stur weiterradelnden Soldaten durch ihr Geschrei gezwungen, anzuhalten. Die Mutter
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