Die Lieben meiner Mutter
den Dingen, die Ihre Nähe wachgerufen haben. Es ist fast, als lösten Ihre tiefen Worte vor allem Kommenden und allem Zugrundegehenden noch eine letzte Lebensintensität und Sehnsucht aus, die leuchtet wie die gleich untergehende Sonne vor dem Abend. Fragen Sie nicht nach einem Namen für all diese Gefühle, ich wüßtekeinen. Ich weiß nur, daß meine große Lebensangst – meine Todesangst – in Ihrer Nähe still wird und daß ich in diesen tristen Tagen, hätte ich nicht meine geliebten Kinder, nur noch den Wunsch hätte, bei Ihnen bleiben zu dürfen – bevor hier alles zu Ende ist.
Sie bittet ihn, sie nicht falsch zu verstehen. Sie teile nicht das Geschick so vieler Frauen, die das Leben enttäuscht liegen lasse, denen es zu wenig gegeben habe – ihr habe es vielleicht zu viel geschenkt, mehr als sie tragen könne, mehr als sie je gefordert hätte. Ihr Herz müsse sich teilen zwischen vier gesunden, blühenden Kindern , zwischen ihrem Mann und einem Menschen, der ihr und ihrem Mann gleich nahestehe – dem liebsten Menschen, den es für sie gebe auf dieser Welt. Und trotz aller Schmerzen habe sie all ihre Kraft und auch ihr Glück aus ihrem Aufgehen in dieser schwierigen Gemeinschaft bezogen, deren Konflikte jetzt, teils durch unglückliche Begegnungen der letzten Wochen, teils durch die äußere Situation bedingt, nicht mehr aufgelöst werden könnten, weil der Krieg dazu keinen Raum mehr lasse. Was ist der dünne, zerbrechliche Silberfaden eines Menschenherzens, gemessen an den Kräften, die jetzt aufeinanderprallen? Sie werde letzten Endes fromm genug sein, sich diesen Kräften zu unterstellen – auch im Bewusstsein des eigenen Unterganges. Sie glaube nicht einmal, dass es Selbsterhaltungswillen sei, der sie zu ihm führe. Es sei etwas anderes, kaum Nennbares; sie sei ja sogar bereit zum Tode, wenn sie dabei nur in seiner Nähe wäre.
Wares ein Hilferuf, ein Schrei gegen die Flammenmeere und die menschlichen Fackeln in den zerbombten Städten, war es ein Liebesbrief? Jedenfalls hat der Professor ihr versprochen, sie bald einmal im nahen Radebeul zu besuchen. Und sie dringt darauf, dass er sein Versprechen bald, sehr bald wahr machen müsse. Sie fürchtet, dass keine Zeit mehr bleibe und sie ihn völlig verlieren könnte, dass alles zu spät sei. Er dürfe nicht böse sein, wenn sie sich immer wieder an ihn wende. Für sie sei es wie ein Wunder, dass es einen Menschen gebe, in dessen Gegenwart sich all ihre Kräfte wieder sammelten und die Qual des letzten Jahres still werde. Sie sei so allein jetzt mit den Kindern! Wie sie das schaffen solle, wenn sie nicht nach einer Quelle suche, aus der sie Kraft schöpfen könne? Sie empfinde es als eine Gnade, dass jemand wie er in ihr Leben getreten sei, ein Mensch, dem sie sich freiwillig unterstellen könne. Aus dessen Händen sie beides, den Tod wie das Leben, willig empfangen werde. Und wenn er mit ihrem Vertrauen nichts anzufangen wisse, werde sie sein Schweigen mit der gleichen Bereitschaft hinnehmen wie seinen Rat – als das Ende einer menschlichen Beziehung, die noch gar nicht angefangen habe – und werde sich nicht länger wehren gegen den Untergang.
Ohne Übergang wechselt sie den Ton und erteilt dem Mann, aus dessen Händen sie beides, den Tod wie das Leben, willig empfangen will, selber Rat. Sie versucht, demProfessor seine Illusionen hinsichtlich des zukünftigen Kriegsverlaufs auszureden. Sie glaube keineswegs daran, dass sich die Russen bei ihrem Vormarsch aufhalten ließen. Sie beschwört ihn, Dresden zu verlassen, und versichert ihn ihrer Hilfsbereitschaft. Sie habe sehr viel Mut, ihm zur Seite zu stehen, wenn es ums nackte Leben gehe. Und wenn er nicht wisse, wohin, solle er – selbstverständlich mit seiner Gattin, wenn sie nicht schon besser untergebracht sei – erst einmal zu ihr nach Radebeul kommen.
Treuherzig berichtet sie ihm noch, dass sie ihrem Mann von ihrer neuen Bekanntschaft bereits brieflich erzählt habe. Ihr Mann sei ihr bester Freund, und es gebe eigentlich nichts, was sie ihm verschweige – außer in letzter Zeit manchmal Dinge, die ihm sehr weh tun müssen.
Aber dann hat der Professor sein Versprechen doch nicht wahr gemacht. Also fährt sie mit dem Fahrrad zu ihm hin, mit Hanna auf dem Rücksitz, drei Tage nach dem großen Bombardement vom 13. und 14. Februar.
Über Neustadt Bahnhof, Neustadt Markt, Albertplatz, Carolabrücke, Sachsenplatz, Pfotenhauerstr. zu den Kliniken, berichtet sie ihrem Mann in Wien . Kam ganz
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