Die Lieben meiner Mutter
anderen hätten immerhin die Initiative auf ihrer Seite.
Niemand weiß in diesen Tagen und Wochen, wo die Frontlinien verlaufen, ob ein Ort, der eben noch »Hinterland« war, plötzlich Teil der Front wird; niemand kann voraussehen, bei welcher Besatzungsmacht man landen wird, wenn man sich bewegt.
Trotz ihres angeschlagenen Zustandes und ihrer eigenenBedenken, ob sie die Strapazen kräftemäßig überstehen wird, entschließt die Mutter sich, die Flucht nach Süden zu wagen. Wer wird das Gepäck und den kleinen Paul tragen, wovon werden sich die fünf, wenn die Reise eine Woche oder länger dauert, ernähren, was, wenn sie unterwegs krank wird und physisch versagt? Sie weiß es nicht. Sie näht den Kindern aus Segeltuchresten Rucksäcke, die ausschließlich mit Lebensmitteln gefüllt werden. Nur der Älteste soll noch eine weitere Last tragen: zwei Partituren des Vaters, die noch nicht aufgeführt worden sind. Aber ausgerechnet Rainer, der damals knapp Elfjährige, um den sie am meisten bangt, falls sie den Russen in die Hände fallen, wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die Flucht. Er sperrt sich gegen die Veränderung, gehört zu denen, die ihr Glück im Verharren suchen. Oder ist er von der Oma entsprechend indoktriniert worden? Bis zuletzt hofft die Mutter auf die Ankunft ihrer Freundin Linda, die sie in ihrer Verzweiflung doch noch um Hilfe gebeten hat. Aber offenbar kann Linda ihre Zusage – weil sie keine Reisegenehmigung bekommen hat, weil die Züge nicht fahren, weil sie Andreas die Hand auf seinem Krankenlager in Bad Wörishofen hält? – nicht wahrmachen.
Linda hatte ihre Freundin kurz zuvor ausdrücklich vor dem Weg nach Bayern gewarnt. Es sei keineswegs gesagt, dass die Maßnahmen der amerikanischen Besatzungsmacht humaner ausfielen als die der Russen, zumal die Amerikaner vor allem ihre farbigen Truppen als Besatzereinsetzen würden!
»Farbige Truppen« – was bedeutete dieser Ausdruck damals? Andere nannten die farbigen amerikanischen Soldaten damals »Neger« – was kein Schimpfwort war. Aber beunruhigend war der Hinweis doch. Nur in den Großstädten hatte man vor dem Krieg den einen oder anderen »Neger« gesehen.
Die Warnung von Linda mag die Mutter einen Augenblick lang irritiert haben, sie hält sie nicht davon ab, den Weg zu den farbigen Truppen zu wählen.
Die Mutter hält sich zugute, dass sie die Dinge etwas schneller erkennt als die anderen. Aber nun muss sie sich durchsetzen gegen alle, die nichts als Unmöglichkeiten vor sich sehen. Die Oma war gestern noch entschlossen mitzukommen, aber in der Nacht vor der Flucht hat sie schlecht geschlafen und sich zu der Meinung durchgerungen, unter den gegenwärtigen Bedingungen abzuhauen sei reiner Wahnsinn, nichts als Hysterie und ungesund – diese Worte sagt sie der Mutter am Morgen ins Gesicht. Auch alle anderen Verwandten und Bekannten hätten sich zum Bleiben entschlossen.
Für einen Augenblick ist die Mutter wie gelähmt. Das Wort ungesund trifft sie, es trifft sie mehr, als ihre Schwiegermutter ahnt. Es setzt einen flirrenden Selbstzweifel frei, und in diesem Augenblick sehnt sie den Vater ihrer Kinder herbei und denkt: Ein Wort von Heinrich, dem vergötterten Sohn, würde alles lösen!
Aber Heinrich hat auf ihren letzten Brief nicht mehr geantwortet,sie weiß nicht einmal, ob er noch in Wien ist. Und ist Heinrich nicht ein Muttersöhnchen? Der Liebling, der seiner Mutter nach ihrer Scheidung von ihrem liederlichen, notorisch untreuen Pfarrersgatten auch den Mann ersetzen musste? Die Mutter muss die Entscheidung ganz allein verantworten und teilt sie den zum Bleiben Entschlossenen mit erzwungener Ruhe mit: Sie hat sich für die Flucht entschieden und wird mit den Kindern gehen – noch heute!
Da fährt die Schwiegermutter sie an, sie schreit. Dann fahr doch, fahr doch, in fünf Stunden geht der nächste Zug. Aber die Kinder lässt du hier!
Die Mutter, die die Risiken der Reise durchaus vor Augen hat und ihres Entschlusses keineswegs ganz sicher ist, begreift nur noch eines: Die Oma will sie loswerden und die Kinder dabehalten. Sie leitet einen Besitzanspruch daraus ab, dass sie der immer wieder bettlägerigen Schwiegertochter die Arbeit mit den Kindern und dem Haushalt abgenommen hat. Der Oma ist es mit ihrer von Heinrich stets gerühmten »Mütterlichkeit« gelungen, die Mutter auf die Seite zu drängen. Längst hören die Kinder mehr auf ihre Oma als auf ihre Mutter. Und natürlich ist der Oma, die ihre Augen überall
Weitere Kostenlose Bücher