Die Lieben meiner Mutter
widerstehen können, seine Geliebte daran zu erinnern, dass sie die Mutter von vier Kindern sei – was sie dann jedes Mal in Wut versetzte. Eigentlich wisse er nicht mehr, wie er sich verhalten solle. Sie habe immer versucht, den Schleier der Einsamkeit , der ihn umgebe, zu zerreißen, habe aber nie gefragt, ob er dies auch wünsche. Vielleicht brauche er diesen Schleier! Am Ende , wird Andreas später an die Mutter schreiben, finde ich mich immer in der gleichen, endlosen Einsamkeit, aus der mich nur mein Ergriffensein von der Kunst, von allem Schönen, erlöst. Immer wieder habe ich die Erfahrung machen müssen, daß ich unfähig bin, die so und nicht anders geartete Disposition der Geschöpfe, an die ich mich gebunden fühle, durch einen Willensakt zu ändern.
Mit der Hellsichtigkeit ihrer ständig gefährdeten Liebe ahnt die Mutter, dass sich in Bad Wörishofen etwas gegen sie zusammenbraut. War es eine gute Idee, ihre beste Freundin mit den Büchern dorthin zu schicken? Die kinderlose Linda hat den Vorteil, dass sie sich freibewegen kann. Der viel geliebte Andreas ist krank und allein, und er ist besonders anziehend, wenn er krank ist. Wird er seine guten Hände nicht an Lindas gern zur Schau getragenen Busen legen und die Geliebte in Grainau vergessen? Linda hatte angekündigt, gleich nach ihrem Besuch wieder zu ihr zurückzukehren, aber sie kommt und kommt nicht. Im Krieg, namentlich im letzten Kriegsjahr gibt es tausend Erklärungen, warum eine getroffene Vereinbarung nicht eingehalten wird. Aber vielleicht ist die einfachste Erklärung die zutreffende: Linda hat die Chance, mit Andreas allein zu sein, sich um ihn im Lazarett zu kümmern, ganz einfach wahrgenommen.
In ihrer Unruhe hat die Mutter offenbar eine Postkarte voller Vorwürfe an Linda geschrieben. Ihre Freundin schreibt sofort zurück und ist empört über die Unterstellung, dass sie, Linda, ihre Rolle als Botin ausnutzen würde. Wie kannst du an mir zweifeln, fragt sie. Ja, sie habe sich entschlossen, dem kranken Andreas bei seiner übermenschlichen Arbeit zu helfen. Da er tagsüber meist im Lazarett bleiben müsse, sei sie enorm im Druck mit Kostüm- und Beleuchtungs-Proben, sie müsse praktisch alle Kostüme selber nähen. Am Ende stimmt sie den vertrauten Refrain an: Wenn es um seine künstlerische Arbeit geht, ist Andreas der Fels .
Auch Andreas schreibt in jenen Tagen einen Brief, der sichtlich dazu dienen soll, den Frieden zwischen den beiden Freundinnen wiederherzustellen. Linda sei in BadWörishofen überraschend angerauscht . Sie befürchte, dass die Mutter ihr womöglich böse sei und ihr gar die Freundschaft aufkündigen würde, wenn sie erfahre, dass Linda sich entschlossen habe, dort zu bleiben. Wozu Andreas jedoch keinerlei Anlass sehe. Linda mache sich tatsächlich große Sorgen um ihre Freundin und die Kinder und warte dringend auf einen Brief von ihr. Er selber habe zurzeit keinerlei Kontakt zu Linda, da er seit drei Tagen mit Angina im Bett liege.
Nebenbei erkundigt Andreas sich nach Heinrich, den er in Wien vermutet. Er hoffe sehr, dass Heinrich von dort nicht wegmuss – ein seltsames Wort für die damit wohl gemeinte Verschickung an die Front.
In einem Brief teilt Andreas – dies nur an dich persönlich! – seinem Freund Heinrich seine Sorgen über die Avancen von Linda mit. Er habe wirklich nichts dazu getan, Linda irgendwelche Hoffnungen zu machen, wolle sie auch nicht in seiner Nähe haben. Aber in ihrer praktischen, lebensklugen Art habe sie sich im Offiziers-Lazarett unentbehrlich gemacht und arbeite dort als Assistentin des Chefarztes.
10
In den letzten Monaten des Krieges ist die Mutter ganz auf sich gestellt und hat niemanden mehr, dem sie mit Aussicht auf eine baldige Antwort schreiben kann. Von Linda und Andreas will sie einstweilen nichts wissen, weil sie den beiden nicht mehr traut. Gleichzeitig rechnet sie jeden Tag damit, dass Heinrich aus Wien an die Front geschickt wird. In ihrer Not wendet sie sich einem anderen Gesprächspartner zu.
Es ist ein Professor im Friedrichstädter Krankenhaus in Dresden, der sie dort betreut hat und in seinem Haus eine Art Lesekreis unterhält. Sie sieht in ihrem Arzt, den sie nur flüchtig kennt, einen Seelenverwandten und öffnet sich ihm mit aller Rückhaltlosigkeit, die ihr eigen ist. Sie ernennt ihn zu ihrem einzigen Ratgeber, ja zu ihrem Retter.
Wenn wir nicht alle vor der nackten, letzten Frage nach unserer Existenz stünden, würde ich wohl nichts mehr sagen von
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