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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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richtiges Farmerleben!
    Aber der Gefreite Heinrich ist kein gehorsamer Soldat. Er, der Musiker und Komponist, wütet gegen das ständig laufende Radio und verlässt die Truppe manchmal auch ohne Erlaubnis. Am Montag, seinem freien Tag, will er mit einem Kameraden in die Stadt gehen und einen Pelz für seine Frau aussuchen, abends dann indas Philharmonische Konzert mit Karl Böhm. Dass er vor niemandem Angst habe, schreibt er seiner Frau, habe sich in seinem Soldatenleben als sehr vorteilhaft erwiesen.
    In den Wochen des Wartens auf den Marschbefehl geht er während der Wache unter einem klaren Sternenhimmel – der ersten Wache in seiner bisher 1¾-jährigen Militärzugehörigkeit – seinen Gedanken nach.
    Fest steht, daß jeder Soldat, der nicht direkt an der Front steht, ein absolut unfruchtbares, regelrecht schmarotzerhaftes Dasein führt. Jeder sollte sich eigentlich schämen! Sehr viele sehen das auch ein und hassen diese aus der Not geborene Lebensform aus tiefster Seele. Wird nun der Soldat eingesetzt, so doch nur wieder zur Zerstörung. Im Anfang geschah dieses bei sehr vielen aus einer starken Vitalität heraus, um uns Raum, Luft und »Recht« zu schaffen. Für Deutschland war dies der vertretbare Anlaß zum Krieg. Bei vielen Soldaten konnte das nur durch Zwang geschehen, da sie die vorwiegende Berechtigung zum Soldatensein in der Erhaltung und dem Schutz der Heimat sahen. ... Wer schafft nur heute noch Positives, wer sorgt für die Beschaffung der Nahrung, Kleidung, Erziehung der Kinder? – Nicht mehr die Männer, sondern ausschließlich die Frauen und Ausländer und Gefangenen. Und nur ganz wenige noch, die einen Bruchteil Zeit der Schönheit und der Vertiefung leben. (Das muß erhalten bleiben!) Es ist immer wieder erschreckend zu sehen, wie willenlos, geduldig und voller Angst der Soldat sich in die Zwangsjacke einpressen läßt. Die Macht der Maschine!
    Entweder gibt es keine Antwort der Mutter auf diesen Liebesbrief,der ihre ungeheure Leistung, die Leistung aller Mütter während der Flucht anerkennt, oder ihre Antwort ist nicht erhalten. Ich bin dankbar, dass ich diesen Brief des Vaters lesen konnte. In diesem Brief erkenne ich den Vater wieder, den ich liebte – trotz HJ und Führerhauptquartier.
    Wenig später erfährt Heinrich von seiner Frau, dass seine von den Kindern und von ihm so sehr verehrte Mutter gegen ihre Schwiegertochter nach Kräften intrigiert. Versehentlich habe sie einen noch nicht abgeschickten Feldpostbrief der Oma an ihren Mann, Heinrichs Stiefvater, gelesen. Darin hatte die Oma Zweifel geäußert, ob man ihre Enkel der Mutter überhaupt noch einen Tag länger überlassen könne. Sie sei hysterisch und schnappe immer wieder über. Die Beschuldigte weiß nun Bescheid; keine Illusionen mehr über die hilfreiche, für ihre protestantische Geradlinigkeit berühmte Oma. Aber gleichzeitig weiß sie auch, dass sie die Oma für die geplante Flucht aus Oschatz braucht. Ihr praktischer Verstand sagt ihr, dass sie die Reise bei ihrem prekären Gesundheitszustand eigentlich nur gemeinsam mit der Oma überstehen kann – wenn die sich denn ihrem, dem Kommando ihrer Schwiegertochter, unterwirft.
    Aber nicht nur die Oma, auch alle Bekannten im Umkreis raten ihr von der Flucht nach Bayern ab. Darunter auch ein Familienfreund namens Sellner, der sie zunächst begleiten will, aber im letzten Moment erkennen lässt, dass er mehr Angst vor der Flucht hat alssie selber. Plötzlich redet er nur noch von den Bombardierungen der Züge und fragt sie, wovon sie denn sich und ihre Kinder ernähren wolle, wenn die Reise eine oder zwei Wochen dauere. Einen feigen Hund kann ich als Begleiter nicht gebrauchen , schreibt sie an Heinrich.
    Ein paar Tage später fällt Sellner ganz aus. Er hat erfahren, dass seine Braut mit vielen Tausend anderen ostpreußischen Flüchtlingen mit der »Gustloff« untergegangen ist. Lapidar vermerkt die Mutter, dass Sellner nun nicht mehr zur Verfügung stehe. Jeder hat in diesen Tagen ähnliche Nachrichten zu verkraften und kann nur überleben, wenn er sie resolut verdrängt.
    In einem Brief an Heinrich analysiert die Mutter kaltblütig ihre Lage. In einer Situation existenzieller Ungewissheit, findet sie, gebe es nur noch zwei Menschentypen: diejenigen, die sich vom Instinkt des Verharrens leiten lassen; die anderen, die das Risiko einer Flucht ins Ungewisse auf sich nehmen. Beide würden Gefahren eingehen, die sie nicht kennten. Aber die einen würden dies passiv tun, die

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