Die Lieben meiner Mutter
bietet allen Charme auf, um dem Soldaten klarzumachen, dass er allein und zu Fuß sehr viel schneller an sein Ziel gelangen werde als mit ihr, mit dem Gepäck und dem siebenjährigen Kind. Er überlässt ihr Kind und Fahrrad. Gemeinsam schieben Mutter und Tochter das platte und das intakte Fahrrad in der Nacht weiter. Und trotz aller Anstrengung, trotz ihrer Übermüdung ist der Mutter plötzlich richtig wohl. Himmel – Erde – Luft, schreibt sie, das alles längst nicht so schlimm wie Städte, Bahnhöfe, die Panik unter den Menschen, und ich bin erst wieder etwas ruhig jetzt, seit ich dem entflohen bin. Nach drei Stunden Fußmarsch gelangen die beiden nach Oschatz – zur Wohnung der Schwiegermutter.
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Dort warten andere Kämpfe auf sie. Von Beginn an sinnt sie auf Flucht – nichts wie weg aus Sachsen, das den Russen in die Hände fallen wird, nichts wie weg aus dem verhassten Oschatz, vor allem weg von der Schwiegermutter. Diese unausgesetzte Nähe auf engstem Raum den ganzen Tag, schreibt sie an Heinrich, sei ihr unerträglich – eine Nähe, die mir nicht mit dem liebsten Menschen möglich wäre, eher noch mit gänzlich Fremden wie bei euch in der Kaserne. Was sie an Heinrichs Familie hasse, wogegen sie kämpfe, sei das Ungestaltete – je proletiger, desto wohler fühle sich seine ach so geliebte Mutter in diesem Stall . Alles, was mit Ordnung und irgendeiner Form zusammenhänge, falle ihr schwer und sei nur mühselig erlernt. Gerade ist es Mittag, und wer schläft und schnarcht noch inmitten einer vielköpfigen Kinderschar – die Oma! Ach, ruft sie ihrem Mann zu, der jeden Tag den Marschbefehl erwartet, das Gebundensein an diese seine Familie sei schon ein großes Unglück – das hätten wir eher erkennen und die Dinge anders gestalten sollen!
Was will sie ihrem Mann denn sagen? Will sie ihm ihre Heirat in die Pastorenfamilie und gleich auch noch die vielzu vielen Kinder zum Vorwurf machen?
Ich kann nur raten, wie es dem Empfänger dieser Briefe zumute gewesen sein muss. Vor allem die Bemerkungen seiner Frau über das Proletige , das Formlose und Ungestaltete seiner Familie müssen heftige Gefühle bei ihm ausgelöst haben. Sprach aus diesen Zeilen nicht derselbe Dünkel, den sie selber zeit ihres Lebens ihrem Vater, dem früheren Reichstagsabgeordneten, vorwarf? Hat ihn, den Empfänger dieser Klagen, nicht die Wut gepackt? Hat er seiner Frau nicht doch einmal Bescheid gegeben und ihr gesagt: Danke deinem Gott auf Knien, dass du mit unseren Kindern bei der proletigen Oma untergekommen bist und nicht auf deinen Vater angewiesen warst!
Aber er wusste wohl, dass seine launische Frau jedes Gefühl ohne Hemmungen aussprechen, mitteilen musste, das sie gerade bedrängte. Rücksicht, gar eine Zensur ihrer Empfindungen wären ihr als Verrat erschienen.
Heinrich geht es zu dieser Zeit gut bei seiner Funkereinheit in den Hügeln über Wien. Zum ersten Mal schreibt er lange, erzählerische Briefe. Er hat dort nicht viel zu tun.
Herrlich ist hier die Landschaft, leicht gebirgig, alles Wald, die Bäume jetzt überall bereift, bei klarem Wetter ein zauberhafter Anblick. … Gerade wollen wir ins Dorf zu einem Heurigen gehen – doch der heutige Wehrmachtsbericht mit dem russischen Durchbruch legt sich wie ein schweres Gewicht auf die Kameraden, die ihre Familien in Schlesien zu Haus oder evakuierthaben. … Morgen nachmittag will ich Skifahren, abends habe ich Wache. Zu essen gibt’s genug. Wenn ich nur erst mal von euch hören würde! Hoffentlich seid ihr gesund, und du bist bei Laune!
Er berichtet von seinen abendlichen Ausflügen in die Stadt, von seinen Besuchen in der Oper und im Konzerthaus, in die er sich mangels Eintrittskarten einschleicht. In dieser Kunst hat er seine Kinder nach dem Krieg erfolgreich unterrichtet. Wenn immer ein teures Konzert in der Freiburger Stadthalle angekündigt war, das wir keinesfalls verpassen durften, fanden sich seine vier Kinder ohne Eintrittskarten und rechtzeitig, bevor der Dirigent den Taktstock hob, auf verschiedenen Plätzen in den ersten Reihen ein.
Heinrichs Frau ist gleichzeitig beruhigt und auch neidisch auf das Idyll, das er ihr ausmalt. Sie empfindet seine Erzählungen wie ein Märchen, während die Russen schon vor Breslau, Königsberg und Posen stehen.
Auf den Skiern wars herrlich, ich fiel zwar viel hin, doch hatte ich bald die Herrschaft wieder. Morgen bin ich wieder dabei. Heut haben wir zu dritt 6 Stunden lang Holz geholt, gesägt und gehackt! Ein
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