Die Lieben meiner Mutter
berühmte Opernarien mit den unvermeidlichen patriotischen Liedern, zum Schluss sind Ohrwürmer aus dem Operettenrepertoire und Aufbaulieder angesagt. Aus der Umgebung hat er einige Sänger um sich geschart, die ihre Stimmen bisher allenfalls bei Maifeiern oder Kurkonzerten zu Gehör gebracht haben, dazu ein paar Instrumentalisten, die ihre Künste auf der Geige und der Flöte zuletzt in einem Schulorchester zeigten, und ein paar invalide professionelle Musiker aus dem Lazarett. Kunstsinnige Hausfrauen aus dem Ort begeistern sich für den Künstler aus der großen Stadt und nähen Kostüme für seine Vorstellungen. Andreas’ Charisma und sein Talent zur Improvisation hält die ganze heterogene Truppe zusammen – alle lieben ihn.
Andreas empfängt Linda, die Abgesandte meiner Mutter, mit einer Wärme, die sie bei ihm nicht kennt. DerAufenthalt im Lazarett hat ihn verändert. Der strenge Ausdruck seiner Züge hat sich gemildert, das vorspringende Kinn wirkt weicher, er ist zuhörbereit wie nie zuvor. Seine guten Hände fabulieren immer noch wie früher; es fehlen allerdings die unsichtbaren Fäden an den Fingern, an denen er an der Oper in Königsberg und zuletzt in Berlin seine Mitarbeiter tanzen ließ. Inzwischen hat er so viele, meist sehr viel jüngere Männer mit entsetzlichen Verletzungen gesehen, dass er sich des ungeheuren Privilegs, Unterhaltungsabende für sie auszurichten, bewusst geworden ist. Er weiß, dass ihn jetzt nur noch sein Asthma und ein rechtzeitig erkanntes Lungenemphysem davor bewahren, an eine der überall durchbrochenen Kriegsfronten geschickt zu werden. Aber auch ihm droht nun der Abmarsch. Denn jede Woche kommen die Rekrutierer von der Wehrmacht, um unter den Verletzten halbwegs Gesundete ausfindig zu machen, die man ins Feuer schicken kann. Jetzt, da der Krieg, den Andreas für verloren hält, in seine letzte Phase geht, werden auch Greise und Kinder zum letzten Aufgebot gesammelt.
Ich stelle mir vor, dass sich die beiden in einem kahlen, ungeheizten Speisesaal des Lazaretts treffen. Die Bücher der Mutter und der Brief, die Linda mitbringt, erzwingen eine seltsame, irgendwie unpassende Intimität. Sie reden leise miteinander, beugen sich beim Sprechen vor, vermeiden andererseits zu flüstern, um kein Misstrauen zu erregen. Immer wieder muss Andreas das Gespräch unterbrechen, um die Komplimente einesvorbeihinkenden Bewunderers entgegenzunehmen. Linda berichtet ihm vom gesundheitlich und auch sonst prekären Zustand ihrer Busenfreundin. Sie wirft ihm vor, dass er sie mit seinen schwankenden Zuwendungen in eine gefährliche Überhöhung und Idealisierung ihrer Liebe treibe – sie, Linda, habe wirklich Angst um ihre Freundin. Er müsse sich endlich entscheiden, sich entweder zu seiner Geliebten bekennen oder ihr das Schwert in die Brust stoßen! Alles besser, menschlicher, weniger grausam als diese hinhaltende Ungewissheit.
Andreas reagiert leise, hilflos, fast zerknirscht. Die vielen Briefe aus Grainau würden ihm die Tränen in die Augen treiben. Was er denn tun solle? Er habe ihr nie Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft gemacht (Linda, die seine Briefe an die Mutter kennt, weiß es besser!). Er habe sie immer wieder auf seine Begrenzungen und die Schwankungen seines Charakters hingewiesen und ihr gesagt, dass ein kinderloser Regisseur, der mit der Oper verheiratet sei, als Stiefvater von vier Kindern eine lächerliche Figur abgeben würde. Auch habe er ihr nie verheimlicht, dass er von seiner Frau nicht lassen wolle. Aber sie habe alle Hinweise und Zeichen von ihm ignoriert, und je mehr er sich ihr entzogen habe, desto unerbittlicher sei sie geworden. Zu spät habe er erkannt, dass er unwissentlich ein Feuer entzündet habe, das er nicht mehr kontrollieren könne. Ja, es sei schön gewesen mit ihr – wenn auch nicht immer! –, er habe die Hingabe dieser Geliebten und ihre missionarische Überzeugung, dass sie allein wisse,was für ihn gut sei, durchaus genossen. Aber wie habe er denn ahnen können, dass er mit ein paar Liebesstunden eine derartige Verantwortung auf sich geladen habe! Offenbar fehle Lindas Freundin der Sinn für die Spielregeln einer solchen Affäre. Und eine, die wichtigste Regel sei doch, dass man seine Liebe dem Partner nicht aufzwingen dürfe. Linda wisse doch, dass eine bedingungslose Liebe jeden Partner hilflos mache und statt Begehren eher ein schlechtes Gewissen auslöse. Zwar neige er keineswegs zu Schuldgefühlen, aber manchmal habe er der Regung nicht
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