Die Lieben meiner Mutter
Mitschülern nennen. Sie erinnerte sich daran, mit wem ich befreundet gewesen war und wer neben mir gesessen hatte. Immer wieder unterbrach sie ihre Erzählung mit dem Satz: Aber daran musst du dich doch erinnern!
Manchmal nickte ich, als wäre es eine Pflicht, mich zu erinnern. Ich fürchtete, sie werde es als ein Zeichen von Überheblichkeit empfinden, dass ich den Ruf: Natürlich! Jetzt fällt’s mir wieder ein!, schuldig blieb. Aber offenbar gehorcht das Gedächtnis nicht den Regeln der Höflichkeit. Auf weite Strecken hörte ich ihr zu, als erzähle sie von einem fremden Leben.
Nach diesem Gespräch ging ich bei einem Besuch in Grainauin ein Geschäft, in dem alte Webstühle und gewebte Stoffe und Teppiche ausgestellt waren. Ich erklärte, wer ich war und wen ich sprechen wollte: einen Matthias, mit dem ich in den Nachkriegsjahren die Grainauer Volksschule besucht hatte. Die Geschäftsführerin war freundlich und rief nach oben. Nach einer Weile kam der Gerufene eine Holztreppe herunter und begrüßte mich nicht gerade neugierig. Es war klar, dass er derjenige war, nach dem ich suchte: Er bestätigte seinen Namen, seinen Besuch der Grainauer Volksschule und sein Alter. Aber sichtlich scheiterten wir beide bei dem Versuch, in unseren alten Gesichtern irgendeine Spur des »Originals« wiederzuerkennen, das wir aus der Schulzeit in Erinnerung hatten. Und warum überhaupt sollte Matthias sich diese Mühe geben? Nur kurz sah er mich an und blickte dann zur Seite. Er könne sich an so gut wie nichts und niemanden aus dieser Zeit erinnern, sagte er. Nur an einen, dessen Vorname ihm allerdings entfallen sei. Den habe er manchmal nach der Schule besucht, weil bei ihm zu Hause ein Klavier gestanden habe, das einzige Klavier im Ort. Gleich hinter der Veranda, neben der Tür zum Wohnzimmer habe das Klavier gestanden. Wo, in welchem Haus? In dem alten Holzhaus in der Alpspitzstraße, das immer noch so aussehe wie damals. Mit dem, der damals dort gewohnt habe, habe er musiziert, Schneider habe der geheißen.
Aber das bin doch ich!
Ungläubig sahen wir uns an und umarmten uns.
Unsererersten Begegnung folgten viele weitere, wir wurden Freunde.
Matthias erzählte mir von seiner früh erwachten Leidenschaft für Orgeln und Tasteninstrumente, die sein ganzes weiteres Leben bestimmt hatte. In der winzigen Kapelle am unteren Dorfplatz, die kaum zwanzig Personen fasste, hatte er zum ersten Mal ein paar Akkorde gehört, die der Pfarrer auf dem verstimmten orgelähnlichen Instrument hervorbrachte. Die schrägen Klänge hatten ihn derart bezaubert, dass er sich in seinem Kinderzimmer aus Pappe ein etwa gleich großes Instrument zusammenbastelte, dessen Tasten er, wie er es bei dem Original in der Kapelle gesehen hatte, mit kurzen schwarzen und längeren weißen Papieren beklebte. Hinter der Tastatur hatte Matthias Pappröhren angebracht, die die Orgelpfeifen darstellten. Seine Nachbildung litt allerdings an einem Defekt, mit dem Matthias sich nicht abfinden konnte: Sie brachte keinen Ton hervor.
Irgendwann hatte ich ihm wohl von dem Klavier in unserem Haus erzählt. Fortan hatte mich Matthias nach der Schule öfter nach Hause begleitet, durchschritt, ohne nach rechts und links zu blicken, die Veranda und setzte sich ans Klavier. Matthias war nicht sicher, ob er damals Noten lesen konnte. Ich selbst konnte einigermaßen flüssig Noten im Geigenschlüssel entziffern, der Bassschlüssel blieb mir ein Rätsel. Dank der Blindübungen auf seiner Papporgel fand Matthias erstaunlich schnell die Akkorde zu der Melodiestimme, die ichmit der Geige vorgab. Er improvisierte zu einer einfachen Corelli-Sonate oder auch zu einem der Lieder, die wir in der Schule sangen: »Die Bubbele, die Maddele, die schlage Purzelgaggele«.
Stimmt, rief ich, jetzt erinnere ich mich! Aber ist das nicht ein schwäbisches Lied gewesen?
Nachträglich dankte ich Matthias dafür, dass er damals, statt mich wegen meines Hochdeutschs und der falschen Religion, der ich angehörte, zu verprügeln, lieber auf die Tasten des Klaviers hinter unserer Veranda eingeschlagen hatte.
Irgendwann war Matthias nicht mehr in die Alpspitzstraße gekommen. Er brauchte das Klavier nicht mehr. Nachdem er seinen Vater jahrelang bestürmt hatte, mietete der einen regelrechten Flügel für seinen musikverrückten Sohn. Das Ungetüm passte kaum durch die Tür des Hauses und füllte ein ganzes Zimmer.
Neben seinen musikalischen Etüden übte Matthias sich in heimlichen Ritualen, die
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