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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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unseren Untermietern. Aus dem Souterrainfenster sah ich – oder war es Hanna, die mir später davon erzählte? – auf den Treppenstufen ein rissiges Paar Stiefel. Wir rannten nach oben. Inzwischen waren auch die Mutter und die anderen Geschwister in der Veranda angelangt, sodass ich in dem wild bewegten Menschenknäuel immer nur ein Hosenbein oder einen Ärmel des Vaters ausmachen konnte, der einen von uns an sich drückte.
    Meine Erinnerung an die Minuten nach dieser Begrüßung –die Bilder der Umarmungen, die Liebesworte und die Satzfetzen über seine Flucht – ist ausgelöscht. Deutlich nur, weil ich es noch nie bei ihm gesehen hatte, das runde flache Ding auf seinem Kopf mit dem kleinen Zipfel in der Mitte. Erst später lernte ich den Namen dieser Kopfbedeckung: Baskenmütze.
    Die Flucht des Vaters aus französischer Gefangenschaft wurde zu einem Familienmythos – wegen der Mischung aus Wagemut, haarsträubendem Leichtsinn, Optimismus und auch Glück. Die Fluchtgeschichte wurde wieder und wieder und schließlich in verschiedenen Versionen erzählt. Die Baskenmütze hatte der Vater von einem Wächter im Kriegsgefangenenlager in Perpignan gegen ein paar Dutzend Zigaretten eingetauscht, die der Nichtraucher in den Monaten der Lagerhaft gehortet hatte. Aus irgendeinem Grund besaß er auch noch eine stattliche Summe Geld. Da es ihm jedoch trotz aller Bestechungsversuche nicht gelang, sich eine Jacke oder einen Mantel zu beschaffen, blieb die Baskenmütze sein einziges ziviles Kleidungsstück. Ihm war klar, dass eine Flucht in Häftlingskleidung auf dem langen Weg bis zur deutschen Grenze schierer Wahnsinn war. Ein paar Tage vor seiner eigenen Flucht waren ein paar Mitgefangene in ihrer Häftlingskleidung getürmt und noch am selben Tag von der Militärpolizei zurückgebracht und mit Dunkelhaft bestraft worden. Davon wusste er, das bedachte er – aber vorsichtiges Planen gehörte nicht zu den Stärken des Vaters.
    Am 1. November – an Allerheiligen – überwand er den Lagerzaun. In Häftlingskleidung und mit der Baskenmütze auf dem Kopf erreichte er den nächsten Bahnhof und löste dort eine Fahrkarte 1. Klasse nach Lyon. Seine Hoffnung war, dass ein Schaffner in einem Fahrgast in der ersten Klasse, der seinen Rücken mit dem POW -Aufdruck fest gegen die Rückenlehne presste und eine Tarnkappe namens Baskenmütze auf dem Kopf trug, nicht einen entlaufenen Kriegsgefangenen vermuten würde. Der Plan ging auf – der Schaffner fragte lediglich nach seinem Fahrschein.
    In Lyon angekommen, verführte ein Plakat den Vater zu einer irrwitzigen Unterbrechung seiner Flucht. Auf dem Plakat war ein Nachmittagskonzert angekündigt – geleitet von einem berühmten Dirigenten. Nichts hatte der Vater während der Gefangenschaft so sehr entbehrt wie Musik. Da der Zug nach Straßburg ohnehin erst abends fuhr, konnte er der Versuchung, die das Plakat auf ihn ausübte, nicht widerstehen. Inmitten einer Traube von Konzertbesuchern schmuggelte er sich an den Kontrolleuren vorbei und mischte sich unter die Stehplatz-Besucher.
    Mit dem Rücken immer an der Wand blieb er in der Nähe einer Einlasstür. Er vergaß seine Sorge, entdeckt zu werden, als das Licht ausging und der Taktstock des Dirigenten die ihm vertrauten ersten Akkorde aufrief. Er habe sich gerade noch zurückhalten können, nicht mit den Händen mitzudirigieren, erzählte der Vater später.
    In der Pause sprach er eine Französin an, die neben ihm stand. Sein Französisch war erbärmlich – er offenbarte sich der jungen Frau, indem er ihr den POW -Aufdruck auf seinem Rücken zeigte. Und das Wunder, mit dem der Vater, der unverbesserliche Optimist, fest gerechnet hatte, geschah. Die junge Frau war von der Begegnung mit dem musikbegeisterten deutschen Flüchtling derart berührt, dass sie ihn mit nach Hause nahm und ihm einen Mantel ihres Mannes gab.
    In einer anderen Version hat sich die Szene mit anderer Besetzung erst in Straßburg abgespielt. Danach war der hilfsbereite französische Engel nicht weiblichen, sondern männlichen Geschlechts gewesen. Die französische Militärpolizei war auf dem Straßburger Bahnhof auf den Flüchtling aufmerksam geworden. Im Sprinttempo – der Vater war der beste Kurzstreckenläufer seiner Schule gewesen – war er seinen Verfolgern davongelaufen. In einer Seitenstraße hatte ihn ein junger Franzose in einen Hauseingang gezogen und ihn mit ziviler Kleidung ausgestattet. Dessen Hilfsbereitschaft war wohl nur dem Umstand zu

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