Die Lieben meiner Mutter
durch die heilige Kommunion inspiriert waren. Eine fromme Tante hatte ihm ein rotes Messgewand und auch das dazugehörende Messgeschirr besorgt. In einer Treppenkehre unter dem Dach des Hauses nahm ihm ein Freund, der den Pfarrer spielte, die Beichte ab. Matthias war nie ganz sicher, welche Verbrechen er zu beichten hatte, erst auf der Treppe fielen ihm seine Sünden ein. Ein Tritt gegen eine Katze, ein blutiger Ritzer im Arm eines Klassenkameraden, mit dem er gerauft hatte, ein Blick unter den Rock eines Flüchtlingsmädchens. Worauf es beiden bei dem Spiel ankam, war die fürchterliche Strafpredigt,die dem Geständnis folgen musste. Zu seinem Erstaunen wuchs sein Freund, angetan mit dem Messgewand, immer mehr in seine Rolle als Beichtvater hinein. Mit schriller Stimme kreischte er auf den knienden Matthias ein: Er rede sich heraus, er solle endlich offen und ehrlich seine großen, seine ungeheuerlichen Sünden bekennen und die gerechte Strafe dafür empfangen. Matthias ging in sich und erfand neue Sünden: Urinieren in der Kirche, Sodomie mit der hauseigenen Ziege, ein Massaker unter Hühnern. Endlich brach die Sopranstimme hinter dem roten Gewand in wilde Verwünschungen und Flüche aus und verurteilte ihn dazu, drei Wochen lang jeden Tag dreimal bis zur Kirche hin und zurück zu laufen und dabei zwanzigmal das Vaterunser zu beten.
Matthias und sein gleichaltriger Beichtvater mussten diese Übungen abbrechen. Nachbarn hatten sich über die obszönen Strafpredigten und das unmäßige Fluchen in Matthias’ Elternhaus beschwert.
Ich war verblüfft, als Matthias mir erzählte, er habe damals und noch viele Jahre später vom Fliegen geträumt. Als Kinder hatten wir nie über diese gemeinsame Leidenschaft gesprochen. Erst als Erwachsener, behauptete Matthias, habe er eine Technik entwickelt, die ihm ermöglichte, ausgehend von einem Wachtraum seine Träume vom Fliegen zu dirigieren. Im Traum habe er Dutzenden von Flugschülern, die sich um ihn scharten, Lehren über das Fliegen erteilt: Es kommt allein auf euch selber an. Ihr müsst im Augenblick des Absprungs den Atem anhalten und selbst bestimmen,wann ihr wieder einen Fuß auf die Erde setzt! – Viele seiner Träume habe er im Lauf der Jahre aufgezeichnet – in Stenoschrift. In einem Wutanfall habe er das 600 Seiten starke Traumbuch später weggeworfen.
15
Im Sommer des Jahres 1945 wartet die Mutter vergeblich auf eine Nachricht über das Schicksal ihres Mannes, sie hört auch nichts von Andreas. Sie fürchtet sich vor jedem Brief, vor jeder Postkarte. Heinrichs letztes Lebenszeichen ist ein Telegramm im April aus Linz gewesen. Wohin es ihn danach verschlagen hat, ob er verwundet oder tot ist oder als »prisoner of war « in einem Lager lebt, weiß sie nicht. Der Vorhang meines Geschickes ist zugezogen , notiert sie in einem Briefentwurf an Andreas, und vielleicht ist diese Zeit des Wartens noch die gnadenvollste Zeit meines Lebens.
Sie weiß nicht, an welche Adresse sie den Brief schicken soll.
Da läuft ihr im August in Grainau ein Sänger aus Königsberg über den Weg und erzählt ihr, Andreas sei in München gesehen worden.
Ein heißes Glücksgefühl, schreibt sie dem Geliebten, überströmt plötzlich alles Dunkle, Ungewisse, Quälende – die Sorge um Heinrich lastet schwer auf mir. Dich in der Nähe zu wissen, wäre ein so unendlicher Trost – und dich vielleicht wiedersehen zu können. Ich bin ja immer um dich – trotz allem Nichtwissen,allen Zweifeln dir so nahe – ob du’s gespürt hast, dieses weithin reichende Treuegefühl? Kräftigend und beglückend inmitten aller Schwere, aller Enttäuschungen und dunklen Erfahrungen bezüglich Kapitel »Mensch« ist nur die eine: Daß alles äußere Entwurzeltsein, alle äußere Armut nur immer klarer die Dinge freilegt, in denen wir wirklich wurzeln. Und ich weiß nun – in meiner Verlassenheit –, wie unumstößlich ich an dich gekettet bin – an Heinrich und an die Kinder – dafür nehme ich alles auf mich.
Und schon entwickelt die Träumende, die nie ihren praktischen Sinn verliert, einen Überlebensplan für Andreas. Durch Vermietung von zwei Zimmern im Haus und durch ihre Näharbeiten kann sie außer ihren Kindern einen, zur Not auch zwei Erwachsene durchfüttern. Natürlich denke sie dabei zuerst an Andreas und an Heinrich. Kraft dazu gebe ihr die Hoffnung, dass ihr Mann zurückkomme und Andreas wieder zu ihr finde. Solange ich darauf warten kann, werde ich alles können – verlöre ich diese
Weitere Kostenlose Bücher