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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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Annehmlichkeiten. Die große Mehrzahl der Flüchtlinge bestand aus Müttern und ihren Kindern, der männliche Teil der Familie war meist nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Die Einheimischen, die über Schinken, Butter und Milch, über Eier, Kartoffeln und Gemüse geboten, hatten genügend Trümpfe in der Hand, um von den flachsblonden Mädchen aus dem Sudetenland gewisse Gefälligkeiten zu verlangen.
    Grainau war seit Jahrhunderten ein tiefkatholisches Dorf gewesen. Dank der Frauenflut aus dem Sudetenland fielen nicht wenige seiner männlichen Bewohner vom sechsten Gebot ab. Fromme Einheimische, die man bisher im Gasthof unter Hirschgeweihen nur in einer Männerrunde sah, unterhielten plötzlich heimliche Liebschaften mit blonden Geschöpfen aus dem Norden, denen sie ihre Mundart beibrachten. In der Öffentlichkeit ließen sich die ungleichen Liebespaare nicht sehen. Aber im Dorf wusste jeder, was in den Schlafzimmern vorging, auch wenn eine Gardine vor dem Fenster hing. In den fünf Jahren nach dem Krieg, erzählte mir die inzwischen neunzigjährige Maria, habe im Zugspitzdorf Grainau »Sodom und Gomorrha« geherrscht.
    Auch das Haus des Großvaters füllte sich mit Flüchtlingsfamilien. Im zweiten Stock hatte sich ein ständig braun gebranntes Paar einquartiert, das norddeutsch sprach. Morgens gingen die beiden mit Tennisschlägern aus dem Haus, um auf einer weit entfernten Anlage zu spielen. Herr Halbeisen hatte im Krieg einen Wadendurchschuss erlitten und ließ uns Kinder manchmal, wenn er mit Frau Fröhlich, seiner Freundin, nachmittags zurückkehrte, mit unseren Fingerchen die Tiefe seiner Narbe ausmessen. Danach forderte er Paul oder mich auf, ihm zwei oder drei Zigaretten aus dem Kolonialwarenladen im Dorf zu holen. Er klatschte in die Hände und drückte auf ein Wunderwerkan seinem Handgelenk – eine Armbanduhr mit Stoppuhr. Wenn wir unsere bisherige Bestzeit für den Lauf hin und zurück unterbieten würden, versprach er, werde er uns mit einem Stück Schokolade oder mit einer Packung Kaugummi belohnen.
    Nachts wachten wir oft durch gellende Schreie auf, die aus dem Schlafzimmer des Paares drangen. Dann hörte ich die Mutter mit der Hand gegen die Tür schlagen. Aufhören, aufhören!, rief sie, ob Frau Fröhlich Hilfe brauche, ob sie die Polizei rufen solle? Immer war es die Stimme von Frau Fröhlich, die meine Mutter beruhigte. Alles in Ordnung, machen Sie sich keine Sorgen, ächzte sie. Um gleich darauf wieder in Schreie auszubrechen.
    Die Kellerwohnung war von einer kleinen, verwachsenen Frau namens Dirndlbauer mit mehreren Kindern bezogen worden. Bertl Kraus, der Freund von Frau Dirndlbauer, war nur abends zu sehen, wenn er mit rotem Gesicht und Schnapsfahne die Treppe hinunterstolperte. Von dort hörten wir dann gebrüllte bayrische Flüche und Beschimpfungen, gefolgt von dumpfen Schlägen und Gewimmer. Eines Morgens entdeckten wir eine erschreckende Leere in Bertls linker Augenhöhle. Der habe, behauptete Herr Halbeisen, sein Glasauge in einem Streit mit der Dirndlbauer als Wurfgeschoss benutzt und sie dummerweise verfehlt. Das Auge sei von der Wand gesprungen und auf dem Steinboden im Keller in viele Teile zerschellt. Ein tragischer Verlustfür den Bertl, meinte Herr Halbeisen mit einem Augenzwinkern. Denn in Grainau werde er in den nächsten Jahren keinen Ersatz für sein Glasauge finden, wohl auch nicht in Garmisch.
    Auch ohne Glasauge mochte ich den Bertl. Abends setzte er sich auf die Bank unten im Garten und spielte ein brettartiges hölzernes Instrument mit unzähligen Saiten. Mit seinem dicken rechten Daumen, auf den ein stählerner Stift gesteckt war, zupfte er die oberen Saiten an und erzeugte herzzerreißende, zittrige Melodien. Mit den Fingern der anderen Hand brachte er gleichzeitig Akkorde hervor, die das Klagen der Melodiestimme wuchtig untermalten. Ich saß in meinen Lederhosen neben Bertl auf der Bank, blickte gespannt auf seine Finger, manchmal auch in seine leere Augenhöhle und dann hinauf zu den glühenden Felswänden. Bertls Töne, so schien es mir, wanderten ohne jede Mühe an senkrechten Wänden hinauf.
    Die Schule lag oberhalb des Friedhofs neben der Kirche mit dem Zwiebelturm und hatte zwei Klassenräume. Wir waren an die fünfzig Schüler in der ersten Klasse, in der zweiten Klasse schon um die siebzig, da inzwischen die Kinder der Flüchtlingsfamilien hinzugekommen waren. Man saß zu dritt, zu viert in einer Bank und an der Seite. Die Disziplin wurde mit martialischen

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