Die Lieben meiner Mutter
Hoffnung, dann wüßte ich nicht weiter.
In Grainau, teilt sie Andreas mit, herrsche inzwischen Zuzugssperre; aber wenn er für die Zeit seines Besuchs für sich selber Brot, Butter und eventuell auch Fleisch in der Büchse mitbringen könne, werde sie ihn durchbringen, Kartoffeln habe sie genug. Sie werde ihm ihr stilles, kleines Wohnzimmer überlassen, in das die Zweige der Tannen und Buchen hereinlugten. Er könne auf ihrem Südbalkon Sonnenbäder nehmen – sie werde ihn nicht weiter stören. Sie werde glücklich sein, ihnbei sich zu haben und zu wissen, dass sie für ihn sorgen könne wie für eines ihrer Kinder, die b lühend und gesund sind wie schöne junge Tiere. Vielleicht werde er gar nicht begreifen, wie sie ihn immer noch einbeziehe in ihr Leben. Es sei ihr auch gar nicht bange, wenn Andreas mit ihr jetzt vielleicht gar nichts zu tun haben oder mit ihr lieber verkehren wolle wie mit einem fernen Menschen – irgendwann, vielleicht erst viel, viel später, wirst du mich doch einmal suchen und brauchen, irgendwann muss dies alles, was in mir lebt und mich leben läßt, sein Ziel finden …
Und dann, nach all diesen Rücknahmen ihres Gefühls, entfährt ihr doch wieder, unverstellt und unaufhaltsam wie ein Kinderwunsch, der Satz: Könnte ich doch nur mit dir zusammen sein! Ich wäre zu allem bereit!
Nein, sie kann nicht diplomatisch sein, kann sich nicht auf die Zunge beißen. Ob sie den Brief abgeschickt, ob Andreas ihn erhalten hat, bleibt ungewiss. Jedenfalls bekommt sie keine Antwort.
Inzwischen hat sie andere Sorgen. Sie hat ein Testament ihres Vaters gefunden, das ihren Bruder in Berlin zum alleinigen Erben des Hauses in Grainau bestimmt. Danach sind seine beiden Töchter auf den Pflichtanteil beschränkt. Sie fürchtet, dass sie, selbst wenn es ihr gelingt, durch Vermietungen und Näharbeiten die Steuern für das Haus aufzubringen, doch immer nur für ihren Bruder und dessen Kinder arbeite; dass ihr die Steuern über den Kopf wachsen, dass ihre Mieteinnahmen gepfändet werden. Wozu soll sie das Haus reparierenund am Leben erhalten, wenn all ihre Anstrengungen doch nur ihrem Bruder und seinen Kindern zugutekommen! Womit ich diesen Vater verdient habe, fragt sie Andreas. Nehme aus diversen Gründen an, daß er nicht mehr lebt. Interessiert mich – abgesehen von diesem Erbfall – auch nicht mehr.
Sie überlegt, ob sie nicht besser führe, wenn sie irgendwo zwei Zimmer nähme und sich und die Kinder mit ihren Näharbeiten über Wasser hielte. Wenn sie die Belastungen des Hauses los wäre, hätte sie mehr Zeit zum Nähen. Sie könnte auch als Assistentin bei einem Arzt arbeiten, aber mit Nähen verdient sie mehr, vor allem kann sie für ihre Näharbeiten Lebensmittel eintauschen und bei den Kindern bleiben. Sie hat ein Zimmer im Haus an ein ungarisches Schneidermeisterpaar vermietet, das sie einen Monat lang mietfrei wohnen lässt. Als Entgelt sollen ihr die Ungarn ihre raffinierten Schnitte beibringen – Typ des ganz großen Wiener Salons!
Aber wen im bäuerischen Grainau verlangt es nach solchen Schnitten!
Im Herbst 1945 hörten wir in den Abendstunden einen Pfiff von der Straße. Jedes von uns Kindern erinnert sich an diesen Pfiff – mein Bruder Paul und ich wahrscheinlich nur, weil uns dieser Pfiff bei den vielen nachträglichen Erzählungen über das Ereignis immer wieder vorgepfiffen worden ist. Zuerst kam er aus weiter Ferne, und alle, die ihn kannten, glaubten, sie hätten sich verhört. Vielleicht hatte irgendjemand unten aufder Straße die vier unverwechselbaren Töne aus Versehen getroffen. Aber als der Pfiff wiederholt wurde und immer näher kam, war jeder Irrtum ausgeschlossen. Niemand in Grainau, niemand auf der ganzen Welt benutzte diesen schrägen Pfiff. Auf den ersten Ton B folgte das um einen Halbton tiefere A, danach das um zwei Tonstufen höhere C, danach das wiederum um einen halben Ton tiefere H. Die ganze Tonfolge BACH war eine Dissonanz, ein Missklang für jedes Ohr, das an die chromatische Tonleiter gewöhnt war. Und wenn er mit weißen statt mit feuerroten Haaren, wenn er blind, einarmig oder mit einem Holzbein heimgekommen wäre – an diesem Pfiff, schworen Hanna und die Mutter, hätten sie ihn erkannt. Es gab nur einen Menschen, der die Buchstaben des Namens seines Lieblingskomponisten in Töne übersetzt und sie zu seiner Erkennungsmelodie gemacht hatte: unseren Vater.
Als er die Treppe zur Veranda hochstieg, waren Hanna und ich gerade in der Kellerwohnung bei
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