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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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retten. Der Einzige, der Suppe mit nach Hause brachte, war unser kleiner Bruder Paul, der damals gerade laufen konnte. Er hatte sich mit seiner Kindergießkanne angestellt und brachte sie gut gefüllt nach Hause.
    Die amerikanische Feldküche wurde wenige Tage später geschlossen. Die von der US -Armee gespendete und beaufsichtigte Schulspeisung, meist Nudeln oder Maisgries mit irgendetwas Süßem, wurde von den Lehrern zugeteilt. In Turnkleidung mussten wir uns in der Schule aufstellen – die Wohlgenährten, in der Regel Bauernkinder, wurden ausgesondert, nur die Mageren und Dünnen durften sich zum Essen anstellen. Hanna und ich gehörten zu den Dünnen.

13
    In einem Mitteilungsblatt des Grainauer Vereins »Bär und Lilie«, der die Grainauer Ortsgeschichte erforscht, stieß ich auf eine weitere erstaunliche Entscheidung der amerikanischen Besatzer. Es handelt sich um einen ebenso hilflosen wie anrührenden Versuch, den Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns ein Stück Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In den letzten Tagen vor dem Kriegsende hatte es unter Hunderten von Soldaten und anderen Flüchtlingen auch eine Gruppe von KZ -Häftlingen nach Grainau verschlagen. Ein paar SS -Männer hatten 30–40 Sinti und Roma in tagelangen Fußmärschen bis dorthin geführt. Einer der Bewacher behauptete nach seiner Verhaftung, man habe die Gefangenen bis zur Schweizer Grenze – wahrscheinlich war die österreichische Grenze gemeint – bringen und dort freilassen wollen. Dazu kam es nicht mehr, die US -Truppen waren bereits zu nah. Die Bewacher ließen ihre Häftlinge frei und flüchteten in die Berge. Die Häftlinge versteckten sich in den Heuschobern auf dem flachen Untergrainauer Feld. Als die US -Army im Dorf einfuhr, liefen ihr die halb verhungerten Gestalten in ihren grau-lila gestreiften Häftlingsanzügen entgegen.Die Amerikaner verpflegten sie und gewährten ihnen ein Sonderrecht: Sie durften drei Tage lang im Dorf plündern und jeden anzeigen, der sich ihnen entgegenstellte. Aber was und bei wem sollten die Häftlinge, entkräftet und unbewaffnet wie sie waren, schon plündern? Die Einheimischen hatten ihre Vorräte und Wertsachen längst in Sicherheit gebracht. Und falls die »Plünderer« doch etwas Essbares fanden, konnten sie es den Besitzern schwerlich nehmen. Sie waren einzig und allein auf die Barmherzigkeit des einen oder anderen Bauern angewiesen. Nur eine junge Frau namens Maria Schuster, vermerkt das Mitteilungsblatt, verschaffte ihnen – wohl halb aus Mitleid, halb aus Rachsucht – eine nennenswerte Beute. Sie führte sie zum Haus ihrer Eltern, das die Amerikaner beschlagnahmt hatten. Während sich die Besatzer auf dem Balkon sonnten, wies Maria den Häftlingen den Weg in die Küche. Von dort machten sie sich, unbemerkt von den Amerikanern, mit deren Vorräten in prall gefüllten Rucksäcken davon.
    Nach wenigen Tagen waren die armen »Plünderer« in ihrer Häftlingskleidung wieder aus Grainau verschwunden. Es gibt keinen Bericht, der ihre Spur verzeichnet.
    Wären sie zu uns gekommen, die Mutter hätte es wohl nicht über sich gebracht, sie wegzuschicken. Aber was hätte sie den Ärmsten – mit den vier hungrigen Mäulern im Haus – schon geben können?
    Das Dorf füllte sich immer mehr mit Flüchtlingen. Im Herbst 1944 waren die Ausgebombten aus den deutschenStädten gekommen, im Sommer 1945 trafen die Sudetendeutschen ein. Zu Dutzenden quollen sie aus der Zugspitzbahn – die Frauen trugen weiße Kopftücher und Holzschuhe an den Füßen und transportierten große, aus Betttüchern zusammengeknotete Ballen mit ihrem tragbaren Hab und Gut auf den Köpfen. Der von den Amerikanern neu eingesetzte Gemeinderat quartierte die Flüchtlinge zunächst in den Häusern von NSDAP -Mitgliedern ein. Aber da jeder Zug neue Trauben von sudetendeutschen Familien brachte, mussten immer mehr Räume beschlagnahmt werden – bald war in jedem zweiten oder dritten Haus eine Flüchtlingsfamilie untergebracht.
    Die Flüchtlingskinder wurden nach der Schule von den einheimischen Kindern gehänselt und verprügelt. Sie waren »Saupreißen« und hatten in den Augen der Einheimischen in Grainau nichts zu suchen. Die Bauern machten sich ihre unerwünschten Mitbewohner als Hilfskräfte zunutze und hielten sie an, ihnen beim Melken, Mähen und Heutreten zur Hand zu gehen und Holzvorräte für den Winter anzulegen. Die Nähe auf engstem Raum führte zu heftigen Streitigkeiten oder auch zu unvorhergesehenen

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