Die Lieben meiner Mutter
Staub wirbelte vor ihm auf und löste die Gestalt in vibrierende Lichtpunkte auf. War der, der da im Gegenlichtauf uns zukam und so irritierend leuchtete, unser Vater? Nur die Baskenmütze auf dem Kopf machte mich sicher. Aber warum erwiderte er unsere Winke nicht? Erst als er näher kam, erkannte ich, dass er gar nicht winken konnte, da er in beiden Händen etwas trug: in der einen seine Ledertasche, in der anderen einen kupferfarbenen Eimer, der in der Sonne funkelte wie eine Monstranz.
Kaum hatte er jeden von uns begrüßt – Rainer, der Älteste, fehlte wieder, weil er im Internat war –, machten sich Hanna, Paul und ich am Deckel des Eimers zu schaffen. Sirup, erklärte uns der Vater, fünf Liter Sirup– für meinen Verstand eine Menge, die für das ganze Dorf gereicht hätte. Irgendwie hatte der Vater das klebrige süße Zeug, in das wir schon auf dem Heimweg unsere Finger tauchten, »organisiert« – das Wort bezeichnete in jenen Jahren alles, was schwer zu beschaffen und nur durch Beziehungen oder im Schutz der Dunkelheit zu erlangen war. Der Vater, das hatte er durch seine Flucht bewiesen, war ein Fachmann in dieser Disziplin, und wir lernten früh, es ihm nachzutun.
Im Sommer »organisierten« wir Kartoffeln oder »Fallobst«, wobei der Vater dem Obst beim Fallen nachhalf, indem er kräftig gegen den Stamm trat. Im Winter »sammelten« wir Holz zum Heizen, das man auch nur vom Boden auflesen konnte, wenn man es zuvor mithilfe eines Beils oder einer Säge in eine waagrechte Lage gebracht hatte. Zum »Organisieren« gehörte auch, dasseiner Wache stand und rechtzeitig BACH pfiff.
In den Sommerferien mieteten wir ein Ruderboot auf dem nahen Badersee, an dessen Ufern himmelhohe Bäume aus dem Wasser wuchsen. Ich hatte von einer verwunschenen splitternackten Seejungfrau gehört, die auf dem Grund des Sees lag. Nur vom Boot aus, wusste ich, konnte man die Seejungfrau entdecken und nur, wenn man ohne Ruderschlag über sie hinwegglitt – jede Welle in dem moosigen Wasser machte sie unsichtbar.
Nur einmal habe ich die Seejungfrau gesehen, wie sie, den wunderschönen Oberkörper auf den Ellbogen gestützt, den anderen Arm in die Höhe streckte, als warte sie auf einen Retter, der ihre Hand ergreifen würde. Der lange silbrig glänzende Fischschwanz unterhalb ihres Oberkörpers ruhte auf dem Grund des Sees. Tief beugte ich mich über den Bootsrand, senkte meinen Arm in das grüne Wasser, bis ich fast das Gleichgewicht verlor. Aber die Hand der Seejungfrau vermochte ich nicht zu erreichen.
Im Winter ging der Vater mit uns und einem Schlitten, auf den eigentlich nur ein Erwachsener mit einem Kind passte, rodeln. Der Vater war tollkühn, aber auch weichherzig; dem Jammern eines seiner Kinder konnte er nicht widerstehen. Wenn wir nur lange genug quengelten, setzte er ein zweites und auch ein drittes Kind vor sich auf den Schlitten und den kleinen Paul auf seine Schultern. Und schon raste die wacklige Familien-Pyramide den steilen Ziehweg hinunter; der Schneestob uns in die Augen, und plötzlich war wieder dieses herrliche Sirren in meinen Ohren; die beschneiten Bäume links und rechts kippten wie getroffene Schießbuden-Figuren von uns weg, bis wir in einer steilen Kehre das Gleichgewicht verloren und übereinanderpurzelten.
Einmal hatte der Vater beim Bremsen einen Absatz verloren. Und weil Schuhabsätze rar und schwer zu ersetzen waren, liefen wir mit ihm den ganzen Weg noch einmal zurück und suchten links und rechts der Schlittenspuren nach dem Gummiteil. Wir fanden es nicht und fühlten mit dem Vater, weil er den schlimmen Verlust zu Hause gestehen musste. Jeder von uns wusste, dass er große Risiken mit uns einging, für die ihn unsere Mutter vielleicht getadelt hätte, falls wir ihre Fragen über unsere Schlittenfahrt wahrheitsgemäß beantwortet hätten. Wir liebten ihn für seinen Mut und Leichtsinn und hielten dicht. Er war einer von uns, er gehörte zur Bande.
Es gab die Zeit vor Weihnachten und die Zeit nach Weihnachten. Das ganze Jahr bekam erst durch Weihnachten seinen Sinn. Von den Großeltern und Großtanten kamen Päckchen, die von den Eltern allzu nachlässig versteckt wurden. Jeder von uns wusste, auf welchem Schrank, in welcher Truhe welches Paket auf ihn wartete. Ein paar Tage vor dem Fest gingen wir mit dem Vater in den Zigeunerwald. Die Auswahl an gerade gewachsenen kleinen Tannen mit dichtem Astbestand undlangen grünen Nadeln war riesig. Der Vater veranstaltete einen Wettbewerb: Wer
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