Die Lieben meiner Mutter
als Erster den schönsten, den einzig richtigen Weihnachtsbaum entdeckte, durfte ihn auch fällen. Anschließend hatte er dann Mühe, den Streit zwischen uns zu schlichten – wenn er auf uns gehört hätte, wären wir mit vier Weihnachtsbäumen nach Hause gekommen.
Zwei Stunden vor dem Auspacken der Weihnachtsgeschenke gingen Rainer und ich mit unseren Geigen – ich mit einer Halbgeige – in die kalte Dämmerung hinaus. Wir stellten uns vor den Türen von Häusern auf, deren Bewohner sich im Jahr zuvor »bewährt« hatten. Ohne zu klingeln, spielten wir zweistimmig das Repertoire, das wir beherrschten – Corelli, Händel und Vivaldi. Dann öffnete sich die eine oder andere Tür und eine Hand reichte etwas heraus: ein Stück Stollen, ein Stück Schokolade, einen Geldschein. Einmal fiedelten wir vor einem Bauernhaus, dessen Besitzer nach Meinung des Vaters Berge von Speck und Fleisch in seiner Speisekammer hortete. Noch vor dem Ende unseres Adagios, bei dem ich meiner klammen Finger wegen mehrmals patzte, öffnete sich die Tür. Aber statt uns mit einer Speckschwarte zu belohnen, schimpfte der Hausherr über die Katzenmusik und warf uns einen Holzschuh hinterher.
Auf dem Heimweg stritt ich mich mit Rainer: Mit einem bayrischen Jodler hätten wir wahrscheinlich mehr erreicht als mit einer Doppelsonate von Corelli. Vielleicht auch mit einem Schuhplattler! Ich zeigte meinemgroßen Bruder, was ich in dieser Disziplin gelernt hatte. Rainer, der bei den Regensburger Domspatzen sang, sah mich entgeistert an. Wie hatte es geschehen können, dass sein kleiner Bruder derart verbauert war?
Rainer kam nur in den Schulferien – manchmal auch erst nach den Feiertagen zu Weihnachten und Ostern, weil er im Chor der Domspatzen nicht fehlen durfte. Die Eltern redeten oft und mit großem Respekt über ihn – der Vater war stolz auf seine guten Noten und seine rasanten musikalischen Fortschritte. Rainer brachte die Erwachsenen zum Staunen, wenn er sich ans Klavier setzte. Aber er strahlte nicht, wenn er ihren Applaus entgegennahm. Der räumliche Abstand zur Familie hatte sich in den Jahren auch in eine emotionale Distanz übersetzt.
Ich habe meinen großen Bruder aus jenen Jahren als einen bewunderten und doch schüchternen Jungen in Erinnerung, der mich hinter seinen Brillengläsern von weit her ansah. Stundenlang konnte er am Klavier sitzen und sich in seinen Chopin-Etüden verlieren. Bei den Spielen mit den Nachbarskindern hielt er sich zurück.
Mehr als ein halbes Jahrhundert später erzählte mir Anderl, der Nachbarsjunge in den Nachkriegsjahren, er habe Rainer einmal gefragt, warum er denn, anders als seine Schwester Hanna, immer nur herumsitze und nicht mitmache. Ich kann nicht mit euch spielen, habe Rainer geantwortet, ich habe unter Toten gelegen.
Anderl schwor, dies seien Rainers Worte gewesen. Er habe den Satz in Erinnerung behalten, weil er ihm so seltsam vorgekommen sei.
Ob Rainer auf der Flucht etwas passiert war, worauf sich dieser Satz beziehen ließe, bleibt ungewiss. In ihren Briefen erwähnt die Mutter nichts dergleichen. Hunderttausende von Kriegskindern wissen nicht genau, was ihnen in jenen Jahren zugestoßen ist. Ereignisse, die nie zur Sprache kommen, sinken allmählich ins Vergessen. Und schließlich ist es, als hätten sie nie stattgefunden.
Die Mutter spürte, dass ihr Ältester nicht glücklich war, und machte sich Sorgen, dass er im Internat überfordert sei und seine Begabung ausgebeutet werde. In ihren Briefen an den Vater und die Schwiegermutter beschwert sie sich darüber, dass man aus Rainer ein Wunderkind mache und ihm viel zu schwierige Stücke einstudiere, die der Junge wohl spielt, weil er hochbegabt ist, die aber letzten Endes eine seelische und geistige Belastung bedeuten. Ich war teilweise sehr traurig, als ich sah, wieviel von seiner Kindlichkeit weg ist, und daß er sich in einem gewissen inneren Kampf befindet – er ist dort – eben als eine Art Wunderkind – total isoliert und allein, und es dauerte fast 14 Tage, bis er wieder hier zu seinen Geschwistern Kontakt bekam. Und das Kind ist so rührend gut und hilfsbereit, daß ich manchmal heulen könnte.
Sie entwickelt immer neue Ideen, in welchem anderen Internat Rainer besser aufgehoben wäre. Aber was Rainerwohl am meisten fehlte, war die Nähe zu seiner Mutter.
Bei Einbruch der Dunkelheit wurden die Kerzen angezündet, ein erwartungsvolles Frösteln lief uns über Rücken und Arme. Der Vater setzte sich ans Klavier und gab
Weitere Kostenlose Bücher