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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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die Akkorde des ersten Weihnachtsliedes vor: »Es ist ein Ros entsprungen …«. Mit einem schwungvollen Nicken, das seine rote Mähne in die Stirn fallen ließ, gab er den Einsatz für den Familienchor. Jedes Lied wurde erbarmungslos bis zum Ende der letzten Strophe abgesungen. Wenn eines von uns Kindern unsauber sang, gab er den richtigen Ton vor, indem er auf die entsprechende Taste einhämmerte, und ließ die ganze Strophe wiederholen.
    Nach dem Programmpunkt »Weihnachtslieder« trat einer von uns vor den Weihnachtsbaum und sagte auswendig die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium auf. Bei den Worten »… und Frieden auf Erden« stürzten wir an die Gabentische und rissen die Päckchen auf, die mit unseren Namen bezeichnet waren. Beim Auspacken fanden wir Dinge, die sonst unerreichbar waren: Puppen und Kulissen für ein Puppentheater, ein Winter-Dirndl für Hanna, eine Tafel Schokolade, Schuhe und gestrickte lange Strümpfe, von denen wir wussten, dass sie furchtbar an den Beinen kratzten und an Strumpfhaltern getragen werden mussten. Gelassener, aber kaum weniger aufgeregt packten die Erwachsenen ihre Geschenke aus. Einen Riegel Butter, eine Flasche Rotwein, einen Briefumschlag mit Lebensmittelmarken, 100 Gramm Bohnenkaffeefür die Mutter – erst ein Jahrzehnt später wurde das Wort Kaffee ohne die Vorsilben »Bohnen« ausgesprochen, weil es inzwischen nur noch Bohnenkaffee gab.
    Einmal nahm der Vater meinen Schulfreund Matthias und mich auf die Empore der Dorfkirche mit, um die Toccata und Fuge in d-Moll seines Lieblingskomponisten auf der Orgel einzuüben. Nach seinen Anweisungen durften wir den einen oder anderen Perlmuttknopf über der Tastatur ziehen. Mit zunehmender Erregung spielte Matthias an den Knöpfen und registrierte, wie sich die Klänge aus den Orgelpfeifen in Flötenstimmen oder in einen schmetternden Trompetenchor verwandelten. Von seiner Macht berauscht, wollte er auch die Fußpedale ausprobieren. Da er die Pedale wegen der Kürze seiner Beine im Sitzen nicht erreichen konnte, sprang er wie ein Kobold auf ihnen hin und her. Der Vater hatte Mühe, den entfesselten Matthias zu bändigen und seinen Sitz an der Orgel wieder einzunehmen.
    Der Pfarrer hatte den Vater eingeladen, seine Künste auf der Orgel zum Ausklang der Morgenandacht vorzuführen. Die katholische Gemeinde, die die gewaltige Musik des evangelischen Komponisten in ihrer Kirche noch nie vernommen hatte, hörte zu mit offenem Mund. Ein- oder zweimal trat der Vater auf das falsche Fußpedal, vielleicht, weil das richtige Pedal klemmte, vielleicht auch, weil er seine Füße zuletzt nur zum Davonlaufen aus Frankreich benutzt hatte. Matthias und ichwaren begeistert. Wenn der Vater sich nach dem Konzert eine Soutane übergeworfen hätte, meinte Matthias, hätte ihm die Gemeinde sogar anschließend das evangelische Vaterunser nachgebetet.
    Der große Hunger hat erst nach Kriegsende eingesetzt. Die Gespräche im Haus drehten sich meist um andere, um »höhere« Dinge, aber die Gedanken kreisten um die nächste Mahlzeit. Die Mutter hielt uns an, das Brot so lange zu kauen und im Mund zu behalten, bis es weich wie Spucke war. Trotzdem mussten wir das wenige, das uns zukam, teilen, wenn etwa Hannas Schulfreundin Ingrid zu Besuch kam. Ingrid kam, weil sie ein Einzelkind war und sich in der großen Geschwisterzahl in unserem Haus wohlfühlte, wohl auch, weil sie darauf vertrauen konnte, dass wir teilten, was wir hatten. Kau dieses Stückchen, wies meine Mutter Ingrid an, und zähle bis dreißig, bevor du den Bissen schluckst.
    Und wenn du bis hundert zählst, versprach Hanna, wirst du schon vom Zählen satt!
    Wenn die Mutter ausnahmsweise ein Stück Speck ergattert hatte, das die übliche Bratkartoffel-Mahlzeit in ein Festessen verwandelte, blickte jeder von uns auf die Teller der Geschwister und stellte Vergleiche an. Einmal wurde das Gefühl, dass ich weniger als die anderen auf dem Teller hatte, in mir so übermächtig, dass ich mich aus Protest unter dem Tisch verkroch. Dort blieb ich, bis ich von der Mutter hervorgezerrt und mit ein paar Ohrfeigen gezwungen wurde, meine Ration aufzuessen.
    Die Mutter kochte Milchsuppe, Holundersuppe, Brennnesselsuppe und andere Suppen, deren Namen ich vergessen habe. Einmal ertappte ich sie in der Küche, als sie ein Stück Fleisch briet. Ich verwende das Wort »ertappen«, weil sie sich bei meinem Hereinkommen vor die Pfanne stellte, als tue sie etwas Verbotenes. Instinktiv verstand ich, dass sie

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