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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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dieses Stück für sich briet, für sich allein. Das Schnitzel in der Pfanne war viel zu klein, als dass man es unter vier Mäuler hätte aufteilen können.
    Auf dem Heimweg von der Schule entdeckte ich in einem Garten einen Baum, an dessen Zweigen im Überfluss schwarz glänzende Beeren hingen. Sie sahen aus wie Holunderbeeren, aber sie waren dicker und fleischiger und funkelten in der Sonne. Ich kletterte über den Zaun und aß mich satt. Zu Hause fragte die Mutter, warum mein Mund und meine Finger schwarz seien. Die Tinte meines Füllers sei ausgelaufen, behauptete ich. Sie wollte meine Zunge sehen, und da ich die Zähne zusammenbiss, fuhr sie mir mit den Fingern in den Mund und zog meine Zunge heraus. Offenbar war sie so schwarz wie meine Finger, und weil die Mutter immer wütender wurde, erzählte ich ihr von dem Baum mit den schwarzen Beeren.
    Als ich sie zu dem Baum geführt hatte, stieß sie einen Schrei aus, packte mich an der Hand und zog mich zum Haus von Doktor Krause, das in unserer Straße lag. DerArzt wurde im Dorf der »Tropenarzt« genannt, weil er im Krieg in Afrika die schwer Verwundeten aus Rommels Armee zusammengenäht hatte. Als sie dem Arzt sagte, was ich gegessen hatte, blickte der mich an, als wolle er mir gleich den Bauch aufschneiden. Stattdessen stopfte er einen Schlauch in meinen Mund und befahl mir, ihn zu schlucken. Während ich an dem Schlauch würgte und zu ersticken glaubte, sah ich, wie die ganze schwarze Herrlichkeit aus meinem Magen in kleinen, widerlichen Klumpen in den Glasbehälter am Schlauchende quoll.
    In dem strengen Winter, der dem Sommer folgte, war ich an einer Katastrophe schuld. Die Mutter hatte mich mit einem Einkaufszettel ins Dorf geschickt. Auf dem Weg schneite es. Als ich im Kolonialwarenladen ankam, merkte ich, dass das Heft mit den Lebensmittelmarken nicht in meiner Einkaufstasche lag. Oder hatte ich es auf dem ganzen Weg in meinem Fausthandschuh festgehalten? Es vielleicht verloren, weil ich die Finger im Handschuh immer wieder aneinandergerieben hatte, damit sie nicht erfroren?
    Die Augen starr auf den Boden gerichtet, lief ich den ganzen Weg zurück, den Spuren nach, die ich auf dem Hinweg im Schnee hinterlassen hatte. Weil es ununterbrochen weiterschneite, waren meine Spuren nur noch an den leicht erhöhten Rändern meiner Schuhabdrücke zu erkennen. Immer wieder schob ich den frischen Schnee zur Seite – und plötzlich entdeckte ich etwas, das dort im Schnee lag. Ich fand den Handschuh meinerlinken Hand, den ich eben erst beim Tasten und Wühlen ausgezogen und im Schnee gelassen hatte.
    Zwei Passanten, die mir entgegenkamen, blieben stehen und sahen mir zu.
    Ob sie etwas auf dem Weg gefunden hätten, fragte ich.
    Was denn, fragte die Frau, was hätten sie denn finden sollen?
    Etwas Schmales, so groß wie ein kleines Schulheft!
    Vielleicht ein Heft mit Lebensmittelmarken?
    Ich biss mir auf Lippen und schüttelte den Kopf.
    Mir liefen die Tränen über das Gesicht. Die Frau strich mir über meinen beschneiten Kopf, ich starrte auf ihre freie Hand und auf die Hände ihres Begleiters. Falls sie das Heft mit den Lebensmittelmarken gefunden hatten, hatten sie es längst in ihre Manteltaschen gesteckt. Als sie weitergingen, blickte ich zurück und sah, dass auch sie noch einmal stehen geblieben waren. Aber sie winkten mich nicht zu sich, sie schauten nur bedauernd zu, wie der Kleine mit Händen und Füßen im Schnee wühlte.
    So leise wie möglich ging ich die Stufen zur Veranda hinauf und blieb auf der Schwelle stehen. Ich wagte nicht, die Tür zu öffnen. Aber die Mutter hatte mich gehört, streckte mir die Hand entgegen und zog mich ins warme Haus. Erst einmal brachte ich nichts heraus, als sie mir die leere Einkaufstasche abnahm und hineinschaute. Der gestammelte Satz, mit dem ich auf ihre Frage antwortete, ist vielleicht der längste meines Lebensgewesen. Als ich mein Geständnis wiederholte, weil sie nicht fassen konnte, was ich sagte, war ich auf die Höchststrafe gefasst – auf eine Tracht Prügel mit dem schlimmen, dem eisernen Teppichklopfer – und stimmte innerlich dieser Strafe zu. Nicht nur ich, die ganze Familie würde den Rest des Monats hungern müssen. Der Verlust eines Monatshefts war das Schlimmste, was passieren konnte.
    Aber die Mutter ging nicht in die Besenkammer, sie holte nicht den eisernen Teppichklopfer, sie blickte mich nur an. Ich meinte zu sehen, wie sich ein Sturzbach von Beschimpfungen und Verwünschungen in ihr anstaute. Ich

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