Die Lieben meiner Mutter
verdanken, dass er auf der anderen Seite des Rheins eine deutsche Geliebte hatte.
Am nächsten Tag war der Vater auf der offenen Ladefläche des Transporters dieses Helfers, unter Decken und allem möglichen Gerät versteckt, über die einzige noch intakte Brücke über den Rhein nach Kehl gebracht worden. Von dort aus hatte er sich dann zu seinerFamilie in Grainau durchgeschlagen.
Ob nun die eine oder die andere Version zutrifft, ob am Ende beide oder keine stimmen – für uns war der Vater ein Held.
Die Baskenmütze, seine Tarnkappe, hat er wie einen Talisman gehütet und sein Leben lang getragen. Und immer, wenn ich später einem älteren Mann mit Baskenmütze begegnet bin, habe ich unwillkürlich Vertrauen zu ihm gefasst.
In meiner Phantasie hatte der Vater nicht nur ein paar Monate, sondern eine unendlich lange Zeit, mindestens mehrere Jahre in Gefangenschaft verbracht. So viel steht fest: Als er in dem französischen Lager in Perpignan gefangen war, konnte er nicht voraussehen, wie lange er dort würde ausharren müssen. An welchem Bild von seiner Frau hatte sich der Vater festgehalten, wenn er nachts in der Baracke lag und nicht wusste, wann und ob er jemals zu seiner Familie finden würde? Wenn seine Mitgefangenen sich zerdrückte kleine Schwarz-Weiß-Fotos von ihren Verlobten oder Frauen zeigten und sich erzählten, wie sie die Ihre, die Eine und die Reine, eines Tages in die Arme schließen würden? Welchen Traum von seiner Heimkehr hatte er? Die Kriegsgefangenschaft, die aus prügelnden Ehemännern, aus gefühllosen Soldaten, aus bestialischen Frauen- und Kindermördern romantische Ritter machte, die nur noch von ihrer treu wartenden Ehefrau oder Geliebten schwärmten, hatte dem Vater e i n e Illusion nicht gegönnt: dass sie auf ihn, auf ihn allein und keinenanderen wartete.
Eine riesige Literatur erzählt von der Verzweiflung der Heimkehrer, die nach unendlichen Strapazen zu Hause anlangten und dann in ihrem Ehebett einen anderen fanden. Teck – tock – teck – tock! ... Ein Mann kommt nach Deutschland! Eine derartige Entdeckung brauchte der Vater nicht zu fürchten, er wusste immer, dass seine Frau außer ihm noch einen anderen liebte – seinen besten Freund. Zwar konnte er darauf vertrauen, dass sie ihn bei seiner Rückkehr stürmisch in die Arme schließen würde – aber treu war sie ihm nicht. Er war sich klar darüber, dass seine Frau auch noch auf einen anderen wartete, und auf diesen anderen vielleicht sehnlicher als auf ihn.
Hat er diesen Gedanken von sich weggeschoben, ihn – wie es mit einem inzwischen handlichen und automatisch abgerufenen Fachwort heißt – »verdrängt«? Oder weckte der Gedanke an den Freund, von dem er annehmen konnte, dass er dank seiner Beziehungen nie an der Front gewesen war, gar keine feindlichen Gefühle in ihm? Warum hatte sich der Vater in seinen Briefen aus dem letzten Kriegsjahr immer wieder besorgt nach dem Schicksal von Andreas erkundigt? Hatte der Krieg in diesem kleinen Künstler-Club von Kriegsverächtern eine Großzügigkeit freigesetzt, die über Besitzansprüche, Eifersucht und Rachegefühle erhaben war? Vielleicht waren solche intimen Bindungen zwischen »Seelenverwandten« in den Kriegsjahren gar nicht so selten und so skandalös, wie es uns Heutigen erscheint.Wer jeden Tag den Tod vor Augen hat, entwickelt womöglich eine ganz andere Vorstellung vom Glück als die Friedensverwöhnten: den Wunsch, gemeinsam zu überleben oder auch gemeinsam zu sterben.
16
Ich weiß nicht mehr, wie lange der Vater nach seiner Heimkehr bei uns blieb. Jedenfalls blieb der Mutter nicht viel Zeit, ihn mit dem wenigen, das sie hatte und im Dorf auftreiben konnte, aufzupäppeln. Der Vater hatte sich kaum ausgeruht, da musste er schon wieder fort, um sich an einer Oper in einer der zertrümmerten Großstädte eine Anstellung als Kapellmeister zu verschaffen. Für uns Kinder war es nach dem Krieg kaum anders als im Krieg: Nur für ein paar Tage oder Wochen – meist zu Weihnachten und in den Sommerferien – bekamen wir den Vater zu sehen. Und jedes Mal, wenn wir ihn am Bahnhof in Grainau abholten, ergriff uns das Gefühl des Jubels, das wir erlebt hatten, als wir die Stiefel auf der Verandatreppe sahen. Jeder Besuch des Vaters war ein Feiertag, zu dem die Glocke der Dorfkirche hätte läuten sollen.
Einmal kamen wir zu spät zum Bahnhof. Der Zug, der ihn bringen sollte, war schon wieder abgefahren, als wir dort anlangten. Wir sahen den Vater uns entgegenkommen.
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