Die Lieben meiner Mutter
kannte ihre Wutausbrüche, sie konnte sich durchaus uns Kindern gegenüber gehen lassen und uns anschreien. Aber sie ließ kein Wort heraus. Sie nahm mich an der Hand und ging den ganzen Weg mit mir zurück.
Inzwischen war es fast dunkel, und im Schein der Taschenlampe konnten wir erkennen, dass der immer heftigere Schneefall auch die Ränder meiner Fußabdrücke eingeebnet hatte. Niemand außer uns lief mehr auf der Straße, und die im Nebel schwankenden gelben Lichter in den Häusern waren zu schwach, um uns zu erreichen. Vor meinen Augen dehnte sich eine weiße Fläche, die noch keines Menschen Fuß betreten hatte. Nur an den Schneehäubchen auf den dunklen Latten der Gartenzäune war die Richtung des Weges zu erkennen. Die Mutter sagte nichts, als wir mit schnellen Schritten, die Augen starr auf den Boden gerichtet, denWeg vor- und zurückgingen. Ein paar Mal drückte sie meine Hand, als wollte sie sie wärmen. Wir wussten beide, dass unsere Suche aussichtslos war. Ich spürte ihre Verzweiflung, aber als ich zu ihr aufblickte, lächelte sie mich an, sie machte mir keinen Vorwurf. Mit meiner Hand in der Hand der Mutter hätte ich eine Ewigkeit so weiterlaufen mögen.
17
In den Nachkriegsjahren sind auch die Theaterleute, die nun keine Privilegien mehr genießen, mit Fragen des schieren Überlebens beschäftigt. Andreas hat inzwischen eine Anstellung als Regisseur an der Münchner Oper gefunden und auch den Vater dort als Dirigenten untergebracht. Linda ist als Kostümbildnerin beschäftigt – die »Kommune« hält auch nach dem Krieg zusammen. Die Mutter, die die Wiedervereinigung ihrer drei geliebten Seelen Linda, Heinrich und Andreas in München nur per Post und Telefon verfolgen kann, sitzt mit ihrer Kinderschar im ungeliebten Grainau fest.
Es gibt keine Nachrichten darüber, wie sich die Dinge zwischen Andreas und der Mutter im ersten Jahr nach dem Krieg entwickelt haben. Die beiden müssen sich gesehen und geschrieben haben, aber Andreas geht zunehmend auf Distanz. Offenbar hat er sich entschlossen, Ordnung in sein turbulentes Liebesleben zu bringen, und scheint sich ganz auf seine Nachkriegskarriere zu konzentrieren. Er sucht Abstand – jedenfalls zu der einen, der schwierigen Geliebten mit den vierKindern, die ihn mit den Schwüren ihrer bedingungslosen Liebe zunehmend in Gewissensnöte bringt. Dabei kommt ihm eine Berufung nach Hamburg zustatten, die Stadt ist 800 Kilometer von Grainau und Garmisch-Partenkirchen entfernt. Offenbar setzt er auf die Kräfte der räumlichen Distanz – es gehört nicht zu seinen Stärken, in Liebesdingen dramatische Entscheidungen zu treffen. Der Schreck, das Entsetzen seiner Geliebten über die weite Entfernung, die nun zwischen ihnen liegt, mag ihn überrascht haben, jedenfalls macht er keinen Versuch, sie zu beruhigen.
Hellwach für jedes Zeichen des immer drohenden, aber unvorstellbaren Endes, registriert die Mutter die Absetzbewegung des Geliebten. Es muss in diesen Monaten der Ungewissheit gewesen sein, dass sie sich mit anderen Männern zu trösten sucht. Darunter mit einem, für den die Mutter die große Liebe seines Lebens werden sollte. Er schreibt ihr all die hingebungsvollen Liebesbriefe, auf die sie von Andreas vergeblich gewartet hat, und er ist – aus der Sicht des Sohnes, der diese Briefe liest – ein »verzeihlicher« Liebhaber. Anders als das Genie Andreas, das neben seinen vielen Talenten leider auch das Mitgliedsbuch der NSDAP vorzuweisen hat, gehört Max zu den politisch Verfolgten.
Wahrscheinlich hat die Mutter Max im Haus Hirth kennengelernt. Das Haus Hirth war die einzige Adresse im Dorf, die ihren Ansprüchen auf städtische Kultur und einen gewissen Luxus genügte. Wie ein Irrläufer, denein Südwind über die Alpen getragen hat, steht die Villa auf einem steilen Hügel am Fuß des Kramer. Das im italienischen Ocker gehaltene Haus mit seinen hellgrünen Fensterläden ist der einzige städtische Bau, den man sieht, wenn man von Garmisch aus nach Grainau fährt. Hoch über den Bauernhäusern, den weidenden Kühen und den Heuschobern auf den Talwiesen gelegen, wirkt die Villa wie eine Fata Morgana.
Der erste Besitzer, ein wohlhabender Verleger aus München, hatte unterhalb der Villa in den Zwanzigerjahren ein großes Haus für seine Frau gebaut. Der Sohn hatte es mit seiner kunstsinnigen Gemahlin Johanna zu einem Gästehaus für ihren Freundeskreis und gut situierte Gäste umgebaut, die von weit her aus Deutschland und aus der
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