Die Lieben meiner Mutter
Fall und danach ist alles wieder eben und glatt. Die Liebe eines Mannes ist wie ein Strom, gewaltig und alles zerbrechend in seiner Gewalt. Die Liebe eines älteren Mannes aber ist wie das Feuer der Unterwelt. Wie der Hades. Wer sich der Liebe hingibt, verbrennt, geht unter. Und seine Seele irrt umher wie ein verlorenes Kind. Ich bin oft nicht mehr meiner Sinne mächtig. Und nur deine Kinder sind der Schutz, der dich unablässig umgibt. Du bist mir alles. Alles, der Anfang und das Ende. Wenn ich deinen Körper umfangen halte, bin ich losgelöst von allem, was es an Bösem und Schlechtem in der Welt gibt. Ich habe dich unsagbar lieb. Und der letzte Gedanke wird immer nur dein Name sein.
Max war als politischer Häftling in den Moorlagern im Emsland inhaftiert gewesen. Dorthin verbrachten die Nazis ihre politischen Feinde, auch den bekanntesten unter ihnen, Carl von Ossietzky. Nur weil Mithäftlinge den sterbenden Max entdeckten und ihn aufpäppelten, überlebteer, schwer gezeichnet, die Haft. Und die Mutter, die in ihrer Verlassenheit unter Depressionen leidet, wird in Max so etwas wie einen Bruder erkannt haben.
Die Hirths haben die neue Liaison, die unter ihren Augen zustande kam, offenbar nach Kräften zu verhindern versucht. Empört vermerkt Max, dass die Gastgeber die Bedeutung der Anziehung zwischen ihm und der Mutter nicht verstünden.
Wüßten die Menschen doch, was sie uns antun! Ahnten selbst die Hirths, was sie von mir, von uns verlangen? Sie kämen zu uns und bäten uns, uns wiederzusehen, beieinander zu sein. So halten sie das Ganze für einen Flirt, der vorübergeht. Für ein Spiel. Für das Funkeln eines Sonnenscheins. Für das Blühen eines Baums, der weiß, daß er seine Blüten morgen wieder abgeben muß. Für den Mondschein in mondklarer Nacht, der zwangsläufig der Helligkeit wieder weichen muß. Für den Schrei eines Vogels. Für das Getöse des Windes, das nach Kurzem einer vollkommenen Stille weichen muß. Sie ahnen es nicht, was in mir vorgeht. Sie wissen nicht, daß ich verbrenne bei lebendem Leibe.
Der Empfängerin dieser Liebesschwüre kann es nicht entgangen sein, dass sie von Max Briefe erhielt, die in ihrem Überschwang, in ihrer vollständigen Preisgabe jenen Briefen ähneln, die sie an Andreas geschrieben hat. Max verzehrt sich nach ihr, er bestürmt sie mit derselben Rückhaltlosigkeit, mit der sie ihren Andreas verstört. Aber Mitgefühl, gar Erbarmen haben in der heroischenIdee der Mutter von einer großen Liebe nicht viel zu suchen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie die Hingabe von Max mit gleichem Feuer erwidert hätte.
Ich vermute, dass sie sich dem fünfzehn Jahre älteren Max in einer Aufwallung von Bewunderung und romantischem Mitgefühl hingegeben hat. Dass sie sich mit dem Leiden dieses Verfolgten identifizierte und ihm ihre Liebe schenkte, so wie andere, besser Gestellte wie die Hirths, Geld oder Lebensmittel vergaben – als ein Zeichen der Teilnahme, des Trostes, als eine Botschaft: Ich sehe dich, ich fühle deine Not, ich schenke dir diese Nacht als ein Zeichen dafür, dass du wieder unter Menschen bist und wahrgenommen wirst. Ihre Leidenschaft jedoch gehörte immer noch dem anderen, der ihr nicht einen einzigen Halbsatz jener Beteuerungen gönnte, mit denen Max sie überschüttete.
Max’ Liebe zur Mutter ist nur ein kurzes Leben beschieden. Er meldet sich noch ein paar Mal in den folgenden Monaten, aber sein Ton wird nüchterner, ist geprägt von familiären Auseinandersetzungen und den Sorgen des alltäglichen Überlebens. Diese Sorgen, schreibt er, seien für einen politisch Verfolgten nicht weniger drängend als für irgendeinen Nazi oder Mitläufer. Max hat – ebenso wie die Mutter – eine Familie und sorgt sich um sie. Er findet keinen Ausweg aus dem Tumult in seinem Herzen.
Seine Tochter Franziska wurde eine bedeutende Malerin und hat ihrem Vater in ihren Prosa-Skizzen »Orangenauf dem Gefängnishof« ein bewegendes Denkmal gesetzt. Bruchstückhaft, in lakonischen Bildern, gibt sie die Leidensgeschichte ihres Vaters in den Moorlagern und Steinbrüchen im Emsland wieder. Wie er als schon Totgeglaubter von einem Mithäftling vor dem Verscharrtwerden bewahrt und beim morgendlichen Appell vor dem Umfallen gestützt wird. Was er seinen Kindern vom Weihnachtsfest im Moorlager erzählt hat: Die Nazi-Schergen hatten einige Leidensgenossen von ihm an vorher aufgestellten Weihnachtsbäumen aufgehängt und dann die Bäume angezündet. Sie hatten dabei
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