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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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tragen.
    Dicht unter meinem Standort hatte ich einen Hügel ausgemacht, der wie eine kleine Sprungschanze über dem Abgrund stand. Mit einer Hand vor den Augen tastete ich mich zum höchsten Punkt vor und sprang. Und ich flog, diesmal war es kein Traum, ich löste mich von der Erde, fühlte mich emporgehoben von einem Flügel des Unsichtbaren, spürte das beängstigende und beglückende Ziehen und Rumoren im Magen, das ich vom Schaukeln kannte, hörte das Rauschen in den Ohren aus meinen Träumen und öffnete die Augen in der Erwartung, dass ich in einem ruhigen Bogenden Zwiebelturm der Kirche und das Haus des Großvaters umkreisen würde. Stattdessen sah ich dicht unter mir einen anderen Hügel in hoher Geschwindigkeit auf mich zurasen. Kein Flügel des Erzengels und kein Sonnenstrahl milderte die Gewalt meines Aufpralls.
    Als ich meinen Kopf aus dem Erdreich hob, sah ich mit Genugtuung, dass Willi ein gutes Stück hinter mir aufgesetzt war. Aber im Unterschied zu mir war er auf dem Hintern gelandet. Mein Mund war voller Erde und Gras, irgendwo in meinem Gesicht blutete es, und während ich den Dreck ausspuckte, schrie ich Willi an: Damischer Lügner, dreckerter! Gib mir meinen Hirsch zurück!
    Willi gratulierte mir. Ich hätte beim Fliegen gewaltige Fortschritte gemacht.
    Plötzlich war er neben mir, zog mich hoch und legte mir den Arm um die Schultern. Er wartete, bis ich mich ausgeschimpft und beruhigt hatte. Tieftraurig, mit fast tonloser Stimme nannte er den Grund, warum meine Flugversuche zum Scheitern verurteilt waren. Niemals, sagte Willi, werde der Erzengel einen Evangelischen in die Kunst des Fliegens einweihen. Erst müsse ich katholisch werden, sonst werde ich niemals fliegen.
    Noch am selben Tag bekehrte mich Willi auf dem Balkon seines Elternhauses zum katholischen Glauben. Mit einem Wehrmachtsdolch, den er beim großen Tausch mit den Gebirgsjägern erworben hatte, ritzte er meinen und seinen Handballen auf. Während ich ihm daskatholische Vaterunser nachsprach, vermischten wir unser Blut, indem wir unsere Hände gegeneinanderdrückten. Von Willis Balkon aus sah ich unser Haus; einen Augenblick lang meinte ich, die Mutter in dem offenen Erkerfenster zu erkennen. Das Gefühl von einem Verrat, von etwas Verbotenem, ganz und gar Verruchtem, ließ meine Hand zurückzucken. Willi stieß einen Fluch aus, als ein paar Tropfen Blut auf den Boden tropften. Aber meine Bekehrung, sagte er, sei bereits geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen.
    Einen Augenblick lang dachte ich, ich müsse sterben, wenn ich nicht gleich zur Beichte ginge. Aber ich kannte keinen evangelischen Pfarrer im Dorf, ich würde mindestens bis nach Garmisch fahren müssen. Der Dorfpfarrer würde mir bestimmt keine Vorwürfe machen, wenn ich ihm gestand, dass ich auf Geheiß des Führers der himmlischen Heerscharen vom Unglauben abgefallen war.
    Als der Holzlieferant mit seinem Wagen unten auf der Straße stand, bot Willi der Mutter seine Hilfe an. Gemeinsam mit dem Lieferanten wuchtete er die schweren Holzstücke zum Schuppen und zersägte sie. Die Mutter nutzte die Gelegenheit für einen Besuch bei Dr. Krause, und als sie wiederkam, war ein guter Teil der Ladung zersägt und zerhackt und in handlichen Stücken aufgeschichtet.
    Arglos schrieb die Mutter an den Vater, was für ein netter Bursche dieser Nachbarsjunge sei. Hanna liebe Willi heiß und innig – mit allen Auf und Abs, je nachdem,wie wohlgeneigt oder schlecht gelaunt er gerade sei. Sie verstehe ihre Tochter gut, denn Willi sei ein großer schöner Junge, sie wundere sich nur, wie früh und mit welcher Ausdrücklichkeit solche Regungen bereits einsetzten.
    Unter dem Dach des Schuppens stand ein Holzklotz, darin steckte unsere Axt. Willi zog sie heraus, hob sie über den Kopf und versenkte sie mit aller Kraft in den Klotz. Ich solle doch versuchen, die Axt herauszuziehen, sagte Willi. Vergeblich rüttelte ich an dem Schaft. Ich stieg auf den Holzklotz und stellte mich mit meinem ganzen Gewicht auf den Schaft – die Axt wollte sich nicht rühren. Willi sprach mir ein Gebet vor: Lieber Erzengel Michael, gib mir die Kraft, diese Axt aus dem Holzblock herauszuziehen, ich werde dich mit einem Stück Rindfleisch belohnen! Ich sprach ihm diese Worte nach, und plötzlich löste sich die Axt, als würde sie in einem Stück Butter stecken.
    In den nächsten Tagen hackte ich unter Willis Aufsicht die übrig gebliebenen runden Holzblöcke klein. Ich hatte ihm gesagt, dass meine Mutter

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