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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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in der Alpspitzstraße, außerdem gehöre der Hirsch gar nicht mir, sondern meinem Großvater.
    Schade, sagte Willi. Dann wird es wohl nichts werden mit dem Fliegen.
    Er habe für den Namenstag des Engels ein Treffen verabredet, aber das werde er nun wohl absagen müssen. Wo denn? An der Madonna unter dem Bärenwald! Punkt sieben Uhr früh!
    Nachts löste ich beim Licht einer Taschenlampe mit einem scharfen Messer das runde Hirschmedaillon von meinem Hosenträger. Erschrocken starrte ich auf das kahle Oval, das auf dem Leder zurückblieb. Darin war immer noch der Umriss eines Hirschs zu sehen, ich meintesogar, den Schatten seiner Beine und des Geweihs zu erkennen. Ich rieb das Bruststück mit Schuhcreme ein, doch der Schatten blieb.
    Am Namenstag des Erzengels, am 29. September, schlich ich mich aus dem Haus; die Mutter und meine Geschwister schliefen noch. Ich hastete an der Dorfkirche und der Schule vorbei und weiter hinauf zu den steilen Hügeln unter dem Bärenwald. Ich nahm nicht den Serpentinenweg, auf dem Willi und ich die Mutter auf ihrem Spaziergang mit dem Gast aus Berlin beobachtet hatten, ich stieg die Hügel senkrecht hinauf. Die Erwartung, dass ich bald, ja schon in wenigen Minuten fliegen würde, trug mich aufwärts. Die Felder und Häuser im Tal lagen noch unter Nebelstreifen, nur das Geläut der Kuhglocken und der Kirchenglocke, die jede Viertelstunde angab, drangen zu mir herauf. Ich zählte sechs Schläge, als die Glocke die volle Stunde einläutete – oder waren es sieben gewesen?
    Panik ergriff mich, ich stürmte weiter nach oben. Der Engel hasse Verspätungen, hatte Willi gesagt.
    Oben, am Rand des Bärenwalds, sah ich dunkle, mächtige Tannen, in deren Nadeln der Nachtreif glitzerte. Weit und breit kein Willi, keine Madonna, keine Lichterscheinung. Schließlich entdeckte ich die Gebenedeite – eine winzige Frauengestalt in blauem Gewand, die in einem geweißten Oval aus Zement stand und auf einen verwelkten Veilchenstrauß zu ihren Füßen blickte. Kein Wunder, dass ich sie immer übersehen hatte. So klein und unscheinbar, wie sie dort stand,konnte sie nur jemand finden, der sie suchte. Und vielleicht hatten Evangelische keinen Blick für Madonnen.
    Ich war mir nicht sicher, wie der Führer der himmlischen Heerscharen zur Madonna stand. Da der Engel noch nicht zur Stelle war, konnte es nichts schaden, wenn ich der Madonna einstweilen ein paar frische Wiesenblumen pflückte.
    Endlich sah ich ihn – nicht den Engel, sondern einen kleinen, dunklen Wurm in Lederhosen. Tief unter mir kroch er den Berg hinan, aber er nahm nicht den geraden Weg aufwärts, sondern den Serpentinenweg. Nein, sagte eine Stimme in mir, Willi konnte gar nicht fliegen, er hatte nicht einmal die Anfänge dieser Kunst erlernt, sonst würde er von Hügel zu Hügel aufwärtsspringen und sich mit einem letzten Riesensatz neben mich setzen. Als er, immer noch tief unter mir, auf Rufweite herangekommen war, winkte er mir zu.
    Zu spät, du hast es versaut!, schrie ich ihm entgegen.
    Willi blieb stehen, schöpfte Atem und machte keinen Versuch, sich zu rechtfertigen. Als er bis auf zwei Serpentinen an mich herangekommen war, erklärte er, nach Atem ringend, die Verspätung des Erzengels. Der kümmere sich nicht um die Uhrzeit. Er fliege mit dem ersten Sonnenstrahl zu seinen Verabredungen – und ich solle mich doch umsehen! Bisher liege alles noch im Schatten!
    Der Rücken des gegenüberliegenden Wank lag immer noch im Dunklen. Nur ein dünner Lichtstreif über dembreiten Kamm und ein paar weiß und rötlich aufschimmernde Lichtkreise im blassen Morgenhimmel kündigten den Aufgang der Sonne an. Einige Strahlen erfassten bereits die Spitzen der Alpspitze und der Waxensteine in meinem Rücken, aber der Bärenwald hinter uns stand immer noch im Schatten. Im Tal wanderten Nebelschwaden, die in einem unruhigen Wechsel die Dächer der Bauernhäuser und Heuschober freigaben und wieder verhüllten. Inzwischen hatte Willi den Hügel erreicht, auf dem ich stand. Als der erste Sonnenstrahl die Wipfel der mächtigen Tannen hinter uns aufleuchten ließ, traf mich ein Lichtpfeil, so gleißend hell, dass ich vor Schmerz die Augen schloss. Willi flüsterte mir zu, dass der Erzengel jetzt direkt vor mir stehe, ich dürfe auf keinen Fall die Augen öffnen, sonst werde ich mein Augenlicht verlieren. Ich müsse mich vom Boden abstoßen und weiter als jemals zuvor ins Freie springen, der Engel werde mich auf seine Flügel nehmen und in die Höhe

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