Die Lieben meiner Mutter
festzulegen, seine Weigerung, der Geliebten nach einer hastigen Liebesstunde ein Zeichen der Verbundenheit zukommen zu lassen, sind nicht irgendwelche Nebensächlichkeiten – es ist die Hauptsache. Niemand wird dir einen Vorwurf machen, daß du die Spannungen deines Gefühlsnicht halten kannst. Aber deine Forderung an den anderen, sein Gefühl zu reduzieren oder es auf Hochtouren laufen zu lassen, je nach dem Stand deiner eigenen Spannungen, ist so unmenschlich, daß sie dir keine Frau der Welt erfüllen kann. Ein echtes Gefühl kann man nicht am einen Tag wünschen, um es am anderen als störend zu empfinden. Das ist eine seelische Vergewaltigung und ein Mangel an Ehrfurcht vor der innersten Substanz der Frau. Wenn du diese Ehrfurcht nicht endlich einmal lernen kannst, dann entschließe dich zum völligen Alleinsein. Deine Frau weint – auch Linda weint. Von mir verlangst du Resignation, – und in einem halben Jahr wünschst du sie dir von Linda – soll das so weitergehen? Die menschlichen Verwirrungen und Traurigkeiten, die deine Labilität auslöst, lassen sich nicht verantworten – auch nicht damit, daß deine Arbeit reiche Früchte trägt. Ich glaube nicht, daß Gott sich auf solche Schuldabbuchung einläßt. Auch du hast kein Recht, Menschenleben an dich zu binden, ohne je dabei an einen ernsthaften Einsatz deinerseits zu denken. Sieh Linda an: Du bindest sie so sehr an dich, daß ihr alle natürlichsten Wünsche nach Ehe, nach einem Kind dadurch für immer verbaut sind. Willst du dich nicht einmal irgendwo zum »Verlieren« entschließen, damit du anderswo gewinnst? Denn sonst ist eines Tages alles verloren. Keinem würde deine völlige Ehrlichkeit so weh tun wie das, was du tust: die Dinge offen halten, ruhen lassen. Das hat alles einmal ein Ende.
Endlich!, ruft der Sohn, der diese Zeilen liest. Wie lange mussten alle, die als unwissende Beteiligte die Wirkungen des Liebesdramas zu erdulden hatten, auf diesen Schlussstrich warten!
Esist, als würden hundert eng beschriebene, meist unter Qualen verfasste Briefseiten an dieser Stelle in einem großen Ausatmen enden und ein neues Kapitel im Leben der Mutter ankündigen, ein Kapitel ohne Andreas. Und wenn sie noch so viele Liebhaber brauchte, um sich von der unseligen Fixierung an Andreas und seine raren Liebes-Sprechstunden zu lösen – endlich ist sie frei!
Es brauchte Monate und viel Vor- und Zurückblättern in den Briefen, bis ich erkannte, dass dieser befreiende Brief wahrscheinlich nie abgeschickt worden ist. Es handelt sich um einen unvollendeten Entwurf. Ob die Mutter ihn je »ins Reine« geschrieben und der Post übergeben hat, bleibt ungewiss.
19
Ich kann nicht sagen, an welchem Punkt Hanna und ich der Mutter endgültig entglitten und zu Willi und dem Erzengel übergelaufen sind. Es war keine bewusste Entscheidung, sondern ein schleichender Machtwechsel. Hanna war elf Jahre alt, ich drei Jahre jünger. Irgendwie haben wir gespürt, dass die Mutter einer fremden Macht verfallen war, und legten unser Schicksal in die Hände des Erzengels und seines selbst ernannten Stellvertreters. Und vielleicht kündigten wir der Mutter unseren Gehorsam ausgerechnet in der Zeit auf, als sie sich von der anderen Macht, der sie gehorchte, zu lösen versuchte.
Als sie merkte, dass Hanna und ich nicht mehr auf sie hörten, war es zu spät.
Für den Namenstag des heiligen Michael hatte Willi sich von mir ein besonderes Geschenk erbeten. Der Erzengel habe, sagte Willi, Gefallen an dem Hirsch aus Elfenbein gefunden, der das Mittelstück meiner Hosenträger schmückte. Solche Abzeichen gebe es im Himmel nicht.
Geschnitzte Hirschembleme trugen damals viele Jungen im Dorf, aber kein Hirsch war so weiß und trug einso mächtiges, perfekt gearbeitetes Zwölfender-Geweih wie der meine. Wie denn der Engel, fragte ich Willi, auf den Hirsch auf meinem Hosenträger aufmerksam geworden sei, er habe mich doch nie besucht.
Der Engel sei schon oft in meiner Nähe gewesen, erwiderte Willi, ich habe ihn nur nicht sehen können, da er ein Lichtwesen sei. Ob es mir in letzter Zeit nicht manchmal vor den Augen geflimmert habe, sodass ich die Augen hätte schließen müssen, um nicht geblendet zu werden? Das sei der Erzengel Michael gewesen.
Ich kämpfte gegen Tränen der Wut. Den Hirsch könne er nun wirklich nicht von mir verlangen, sagte ich, der sei ein Wertstück, mehr wert als das Haus, in dem wir wohnten, mehr wert als das Haus von Willis Vater, mehr wert als alle Häuser
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